Altes Eisen?

Irgendwie ist mir heute Morgen mal wieder bewusst geworden, wie wenig uns die Generation der Älteren eigentlich wert ist. Ich saß, mit gefühlten vierzig weiteren überwiegend älteren Personen, im Wartezimmer eines Arztes. Leider war dieses Wartezimmer ziemlich voll. Zwar konnte ich mir gerade noch den letzten Sitzplatz sichern, allerdings trat schon bald wieder eine ältere Dame ein, die mir recht gebrechlich schien. Ich stand auf und bot ihr meinen Platz an. Das ist prinzipiell selbstverständlich für mich. Was mich jedoch schockierte, war, dass auch einige andere Personen meiner Alltersgruppe zur gleichen Zeit in diesem Wartezimmer saßen. Diese wirkten ganz und gar mit sich selbst beschäftigt und machten überhaupt keine Anstalten, der alten Dame entgegen zu kommen und ihren Platz anzubieten.

Einer von ihnen stach mir besonders ins Auge. Irgendwie erinnerte mich der gute Mann an unseren Fußball-Bundestrainer: Weißes Hemd und unglaublich busy. Übrigens blieb ich daraufhin stehen, da immer weitere ältere Damen und Herren in das Wartezimmer drängten. Die Herren meiner Altersklasse (es waren in diesem Fall tatsächlich ausnahmslos Herren) ließ das jedoch immer noch völlig kalt.

Was mir dieser kleine Vorfall einmal mehr verdeutlichte, ist die noch immer in unserer deutschen Gesellschaft gering ausgeprägte Akzeptanz gegenüber den Älteren. Ich meine: Wir gehen Oma und Opa besuchen – an Weihnachten und anderen Feiertagen – schön und gut. Aber sind wir wirklich bereit, uns auf die Bedürfnisse älterer Menschen, ja deren Existenz überhaupt, auch im Alltag einzulassen? Ich denke nicht. Aber woran liegt das eigentlich? Ist das Nicht Wahrhaben wollen des Alters vielleicht unserem Wunsch geschuldet, nicht all zu früh mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert zu werden? Vielleicht. Oder haben wir hier in Deutschland einfach den respektvollen Umgang mit älteren Menschen garnicht erst gelernt? Das von mir beobachtete Phänomen sieht man immerhin in vielen Situationen des öffentlichen Lebens. Nehem Sie Bus, Bahn, Warteschlange im Supermakt. Natürlich gibt es da auch die rüstigen Alten, die sich ihrem Alter nur bewusst sind, wenn es darum geht, daraus Vorteile zu ziehen (Junger Mann, lassen Sie mich mal vor da. usw.). Die meine ich nicht. Denn die bedürfen – jedenfalls noch – nicht unserer Fürsorge. Mir geht es um das Erkennen und Wahrhaben von alten Menschen, die von unserer Akzeptanz im Alltag in gewissem Maße abhängig sind. Und das muss ich mich schon fragen: „Liebes Deutschland, was hast du da nicht verstanden?“

Nehmen Sie als Gegenbeispiel die familiären Bande italienischer Einwanderer-Familien, die auch nach Jahren der eigentlichen Einbürgerung unglaublich stark zu sein scheinen. Hier geht nichts ohne la Mama oder la familiaüberhaupt.

Der von uns tradierte Familienbegriff ist dagegen weitaus offener und durchlässiger. Familie hat bei vielen von uns nicht den Stellenwert, der ihr eigentlich gebührt – leider.

Andererseits denke ich, wir konzentrieren uns einfach zu sehr auf uns selbst. Gestern habe ich bereits auf Ricard verwiesen, der die Akzeptanz gesellschaftlicher Interdependenz als essentielle Grundlage einer echten Selbstlosigkeit propagiert. Ja, ich denke, genau das ist es: Um den Älteren endlich überhaupt empathisch gegenüber zu treten, müssen Viele überhaupt erst einmal kappieren, dass wir von einander abhängig sind. Nur wenn wir uns als kollektiv Handelnde wahrnehmen, haben wir die Chance, von unseren Egotripps runter zu kommen.

Natürlich könnte man nun auch argumentieren:Ja, mit den zunehmenden Rollenerwartungen an uns werden wir immer mehr Stress ausgesetzt. Die „böse“ Gesellschaft ist schuld. Das will und kann ich an dieser Stelle jedoch nicht gelten lassen. Andere Gesellschaften sind genau so „komplex“ strukturiert wie die unsere. Andere Gesellschaften – nehmen Sie ganz Südeuropa – sind unserer sehr ähnlich. Kurz gesagt: Auch die in ihnen lebenden Menschen, müssen arbeiten und haben sich dennoch eine gewisse Empathie im Umgang mit dem Alter und den Alten bewahren können. Wir nehmen uns, so bin ich überzeugt, einfach viel zu wichtig.

Wenn wir von diesem Egotripp endlich mal runterkommen, wird uns vielleicht bewusst, dass wir die Zeit für Oma und Opa, Mutter und Vater, eigentlich (gehabt) hätten und dass es auch im Alltag mit ein Bißchen mehr Rücksicht weitaus menschlicher herginge. Wir sollten uns das nur mal eingestehen.

Matthieu Ricard – Gedanken zur Selbstlosigkeit

Kennen Sie eigentlich Matthieu Ricard? Wenn nicht, dann will ich Ihnen diesen Menschen vorstellen. Ricard, das ist ein französischer Philosoph – Molekularbiologe und buddhistischer Mönch. Ganz nebenbei fotografiert er übrigens auch noch. Da er als offizieller Übersetzer des Dalai Lama tätig ist und in Nepal lebt, bieten sich ihm auch entsprechende Motive. Dieser interessante Mensch hat sich Gedanken darüber gemacht, was Altruismus, also Selbstlosigkeit, eigntlich ausmacht. Seine Thesen* finde ich sehr inspirierend und möchte sie daher an dieser Stelle zusammenfassend darstellen. Demnach ist unsere „wechselseitige Abhängigkeit “ die eigentliche Grundlage unseres Altruismus. Kurz: Der wahre Altruist hat erkannt, dass er in einer Gesellschaft eingebettet und auch abhängig von Anderen ist.

Dem gegenüber steht der Egozentrismus, der nach Ricard die Basis dafür darstellt, „sich und den Anderen ein erbärmliches Leben zu bescheren.“ Der Egoist ist verletztlich und sucht Schutz in der Blase seines eigenen Egos, wo Erfolge und Misserfolge für ihn eine unglaublich hohe Bedeutung bekommen.

Altruismus hingegen steht im Einklang mit der Interdepenz, mit dem Wunsch der Menschen nach Glückseeligkeit (gr. Eudaimonia), mit dem Bewusstsein von den Anderen. Dabei zählt die altruistische Liebe zu den positivsten aller Gefühlsregungen. Zwar ist der echte Altruismus schwer festzumachen, allerdings gibt es ja tatsächlich Situationen, in denen sich Menschen selbstlos verhalten. Ricard spricht sich nebenbei gegen die Existenz eines universellen Altruismus aus. Dieser geht davon aus, dass Menschen nur selbstlos sind, um sich selbst besser zu fühlen.

Es gibt, so stellt Ricard klar, verschiedene Unterarten des Altruismus. So ist die Mutterliebe als solche beispielsweise in einem bilologischen Altruismus begründet – also in einem biologisch angelegten Schutzinstinkt der Mutter gegenüber dem eigenen Kind und in der bedingungslosen Liebe der eigenen Nachkommen. Von diesem ‚Grundaltruismus‘ kann jedoch ein übergreifender Altruismus entspringen. Damit widerspricht Ricard der Theorie des egoistischen Gens von Richard Dawkins, der von einem kompetetiven und stets selektiven Verhältnis allen Lebens ausging.

Alleine durch Training und Meditation kann man seinen Altruismus weiterentwickeln und schulen, der die eigenen Grenzen sprengt. Genau das beweisen neueste Forschungen auf dem Gebiet der Neuroplastizität, die zeigen, dass sich unser Gehirn durch intensives Gefühls-Training verändert. Ich muss gestehen: Ich kannte diese Studien bereits von Geigern, Sportlern usw. Dass allerdings durch Gefühltraining möglich wird, sogar innere Haltungen nachhaltig zu verändern und beispielsweise empathisches Verhalten ausbilden kann, das hat mich erstaunt.

Untersucht wurden im Rahmen der Studien Menschen, die schon seit rund 30 Jahren meditiert haben. Bei ihnen hat man (unglaublich aber wahr) eine deutliche Veränderung der Gehirnaktivität bei der Meditiation über altruistische Liebe festgestellt, die in ihrer Intensität teilweise bis zu 1000mal stärker war, als bei nicht meditierenden Menschen. Mitgefühl ist damit keine spontane Gefühlsregung mehr, sondern ist etwas, was zur eigenen Lebensweise wird und sich auch organisch manifestiert.

Fazit: Grundmotiv des Altruismus ist, dass alle Lebewesen frei sein wollen von Leid. Er ist damit unabhängig von moralischen Kategorien, d. h. von erwarteter Bestrafung oder gar Belohnung. Ricard fundiert diese Aussagen damit, dass es immer wieder Menschen gibt, die anderen helfen – ohne Aussicht auf Belohnung oder Anerkennung, völlig selbstlos. Hier kann man dann quasi von dem authentischen Altruismus, sprechen, der sich erlernen und schulen lässt und den es zu erstreben gilt.

Mein persönliches Fazit: In den heutigen Zeiten ist es keineswegs einfach, in sich den Keim des wahren altruistischen Handelns überhaupt noch zu bewahren bzw. überhaupt auszubilden. Was Ricard und Enthoven diskutieren ähnelt daher eher einer Begriffsdiskussion, die die Motivation von wirklichem, zweckungebundenen Handeln, nicht zu entschlüsseln vermag. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass sich Altuismus eben nur im Handeln selber manifestiert, ohne dass wir jedoch über die Bewegründe der handelnden Person Auskunft erhalten. In der Sozialpsychologie hat man genau das erkannt und statt des Altruismus-Begriffs, den Begriff des prosozialen Verhaltens eingeführt. Auch die retrospektive Eigenbetrachtung durch die handelnden Person selbst vermag uns da nicht wirklich weiterzuhelfen. Was also meint Ricard, wenn er von einem echten, einem wahren Altruismus spricht? Wenn wir uns die verschiedenen Unterarten des Altruismus vor Augen führen, meint er sicherlich eine Art verinnertlichten Altruismus einer höheren Stufe, der auch gänzlich ohne ethische Qualifilkation gilt. Ob es uns jedoch vergönnt ist, in die von Ricard skizzierten höheren Sphären des Bewußtseins vorzustoßen und somit zum wahren Altruisten zu werden, bleibt abzuwarten.

*zusammengefasst aus der Arte-Sendung: „Philosophie – Altruismus“
Raphaël Enthoven diskutiert mit Matthieu Ricard zum Thema „Altruismus“: http://videos.arte.tv/de/videos/philosophie_altruismus-3821786.html