Tattoos zu haben, ist längst nicht mehr ein Zeichen plakativ zur Schau gestellter Non-Konformität. Umso normaler war daher für mich gestern der Gang in eines jener Tattoo-Studios, das, anders als es die allgemeinen Vorurteile gegenüber solchen Lokalitäten vermuten lassen, äußerst aufgeräumt und sauber daher kam. Nun bin ich persönlich kein Tattoo-Neuling, mit der Szene als solches schon länger vertraut und habe selber einige Tattoos. Wobei ich leider zugeben muss, dass ein paar davon mehr schlecht als recht gestochen wurden. Ich würde zwar nicht wirklich so weit gehen und sie als Jugendsünden bezeichen, aber unter den heutigen Tattoo-Maßstäben à la i La Ink und Co. würden sie wahrscheinlich keinen Blumentopf mehr gewinnen. Nichts desto trotz war ich es diesmal nicht selber, der sich den Händen des Tattoowierers (nein, es war keine Frau) ausliefern durfte. Wir kamen also in diesem nett aussehenden Tattoo-Studio an. Was meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Art und Weise wie dieser Ort gestaltet war. Da hingen saubere Tapeten an der Wand, gläserne Austellungsvitrinen beherbergten diverse Schmuckstücke. Hinter der eigentlichen Empfangstheke – die natürlich mit einem Laptop versehen war – stand der Chef des Ladens. Eigentlich kein rauher Typ, so wie man sich ihn vorstellt, sondern nett, freundlich, fast schon strahlend. Wir haben Euch schon erwartet, rief er uns entgegen, als er uns sah. Wir – das waren meine Lebensgefährtin und eine ihrer Freundinnen, die sie aus längst vergangenen Schulzeiten kannte.
Ok – wir gingen durch den Laden in einen hinteren Bereich und gelangten schließlich in einen kleinen Seitenraum, wo uns bereits ein junger Mann (30?) mit sauber gestochenen Unterarm-Tattoos – ein Iron-Maiden-Cover rechts sowie ein Skull im Graffity-Style links – erwartete: Unser Tattoowierer.
Auch an diesem Mann mit gegelten und sauber geschnittenen Haaren konnte ich kein auflehnendes – aufrührerisches Element entdecken. Im Gegenteil: Er wirkte zuvorkommend, freundlich und wies gerade jenes Moment an Empathie auf, das es Frauen und Mädchen wohl ermöglichte, sich in seine Hände zu begeben. Übrigens: Das gilt natürlich auch für Männer – denn oft schon habe ich von bei der Tattoowier-Prozedur in Ohnmacht gefallenen Kerlen gehört.
Nun war also alles geklärt und meine Lebensgefährtin wohl in guten Händen. Als das Summen der Nadel zu mir durch drang – ich hatte es mir mit einer orientalischen Spezialität, einem Kebapteller im Vorraum bequem gemacht – kam auch mir wieder die Lust am „Tattoowieren lassen“ und ich stöberte einige Motivordner durch. Biomechanik, das gefiel mir und in mir reifte der Plan, in naher Zukunft mit dem netten Tattoowierer namens Michael, alles Weitere zu besprechen. Die Tattoowier-Sitzung als solches dauerte ingesamt rund vier Stunden. Gut gesättigt und mit viel Kaffee (siehe meinen vorherigen Artikel) ließ sich die Zeit jedoch gut überbrücken. Mehr noch: Es war tatsächlich interessant. So erfuhr ich beispielsweise, dass eine Tattoo-Ausrüstung der Marke Hot Needle rund 2000 Euro kostet (inkliusive Farben versteht sich) und dass Michael (der nette Tattoowierer), außer beim Tattoowieren, unter zitternden Händen leidet. Wie beruhigend, dachte ich mir. Aber zugegeben, dass was er da auf den Oberarm meiner Liebsten zauberte, konnte sich durchaus sehen lassen und zeugte von echtem Talent. Was ich an einer solchen künstlerischen Tätigkeit wirklich bewundere, ist die Konzentration, die der Künstler über einen langen Zeitraum aufbringen muss. Danach muss man sich doch unglaublich müde fühlen, oder?
Welche Bedeutung hat also das Tattoowieren heute noch – oder hat es gar keine mehr? Dies muss man, so denke ich, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Für eine große gesellschaftliche Gruppe ist ein Tattoo zum Ausdruck ihres jeweiligen Lebensgefühls geworden. Klar – Lebensgefühle haben Tattoos schon immer symbolisiert – allerdings waren diese zuvor latent aggressiver und eigentlich Ausdruck der Auflehnung gegen das verhasste Establishment, den Maintream. Heutzutage bedienen Tattoos letztlich die Bedürfnisse gesellschaftlich betrachtet sehr heterogener Teilgruppen. Lassen Sie es mich so sagen: Ein Mädchen, das auf japanische Animés steht, geht genau so in das Studio wie der Raver. Während noch vor 25 Jahren das Tattoo quasi öffentlich stigmatisiert wurde, ist es heute kulturell ein Zeichen eines zumindest partiell genehmigten Identitäts-Ausdrucks. Damit büsst das Tattoo sicherlich an emanzipatorischem Potential ein, beraubt sich aber andererseits nicht seiner Daseinsberechtigung. Es hat sich sozusagen, den an es gestellten veränderten Anforderungen, angepasst. Das war auch nötig. Denn die Generation der 68er stibt langsam aus. Spaß beiseite: Es geht hier nicht um die 68er, sondern um die Gruppe der sozial – heute sagt man dazu glaube ich – Devianten. Wenn Eigenart jedoch zum Mainstream wird, findet für genau diese Gruppe in Sachen Tattoo sozusagen ein Prozess der Desymbolisierung statt und es macht für sie keinen Sinn mehr sich die Arme damit zu bestechen. Soviel zum Verlust an emanzipatorischem Potential bei Tattoowierungen.
Ein anderer Punkt, der die Kommerzialisierung des Tattoos einleitete, scheint mir die Veränderung des Schönheitsbegriffs und des Verständnis davon, was wirklich schön ist. Auch hier hat das Tattoowieren wiederum einendes Potential. Über viele gesellschaftliche Gruppe hinweg gelten Tattoos jedenfalls als subjektiv schön. Gut – das hat letztlich auch mit dem gestiegenen Qualitäts- und Leistungsstandard innerhalb der Tattoowier-Szene zu tun. Man braucht nicht erst die einschlägigen Magazine durchzublättern, um festzustellen, dass da oftmals echte Künstler am Werk sind. Anker und Meerjungfrauen werden da zu seltenen Exemplaren.
Aber leben wir tatsächlich in der Welt der unbegrenzten Toleranz? Sicher nicht. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die hoch gelobte Akzeptanz von Allem und Jedem einer gewissen Doppelmoral nicht entbehren kann. Ehrlich gesagt – ich bin selber tattoowier – tritt mir allerdings ein all zu passionierter Anhänger des Ich-bemale-meinen-Körper-Kults gegenüber, so erlebe auch ich in mir zunächst einen inneren Distanz-Mechanismus. Dies hat sicherlich mit einsozialisierten Normen und Werten zu tun, vielleicht sogar mit einer Art evolutionär bedingtem Schutzmechanismus. In einer gewissen gesellschaftlichen Klasse (ja, ich verwende an dieser Stelle diesen Begriff) gelten Tattoos nämlich schlichtweg als ‚unpassend‘. Zu nennen ist hier die ‚echte‘ aristokratische Klasse einerseits, sowie deren `Ableger‘, die Finanzbranche, andererseits. Warum auch immer, aber hier wird noch auf ein möglichst seriöses Auftreten der Angestellten gesetzt. Dass Tattoos dabei als unseriös gelten, diese Entscheidung entstammt wohl aus Besprechungen längst vergangener Tage. Machen Sie etwa Ihre Entscheidung, wem Sie Ihr Geld geben, davon abhängig, ob der- oder diejenige Ihnen mit oder ohne Tattoowierung gegenüber tritt? Hoffentlich nicht.
Fazit: Auch wenn viele Schwarzmaler den Untergang des Tattoo-Kults schon mehrmals vorausgesagt haben, bin ich der festen Überzeugung, dass die bunten Permanent-Bildchen überleben werden. Sie sind und bleiben Teil eines kulturellen und gesamtgesellschaftlichen Ausdrucks, der sich aufgrund seiner vielfälltigen Ausprägungen nie erschöpft. Im Akt des Tattoowieren lassens streben wir doch genau das an: Das eine Motiv, das uns von den Anderen unterscheidet und das uns aus der anonymen Masse heraustreten lässt. Dabei handelt es sich um ein all zu menschliches Bedürfnis: Der Wunsch nach gelebter Einzigartigkeit, gepaart mit einer gehörigen Portion Narzissmus, der im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht.