Im Gleichschritt, Marsch!

Ach, was ist das schön! Wir alle leben in einer Zeit, in der wir es uns leisten können, abends ins Fitness-Studio zu gehen, morgens dann vor der Arbeit noch schnell eine Runde durch den Wald zu joggen, um dann, nach der Arbeit, die sauer verdienten Kröten im H&M, C&A oder im A&O wieder auszugeben. Im Zeitalter des sozialen Netzwerkelns sind wir alle ein bisschen mehr zu Individualisten geworden, oder? Wir lassen die anderen teilhaben an unserem Online-Leben, bescheren ihnen quasi voyeuristische Einblicke in unsere Lebenswelt, nur um dafür ein „Gefällt mir“ zu ernten. Der eine hat gerade zehn Liegestützen gemacht, der andere ist gerade 20 Kilometer Rad gefahren – alles live übetragen, via App. So weit, so gut. Aber wissen Sie: Ich denke, dass hinter all dem individualistischen Getue in Wahrheit nichts anderes steckt als das tiefe Bedürfnis des Menschen, den anderen ähnlich zu sein, es ihnen gleich zu tun, dazu zu gehören. Verzeihen Sie, wenn ich nun einen kleinen Ausflug in die Soziologie unternehme, aber dort kennt man dieses Phänomen unter dem Begriff der „Selbstähnlichkeit“.

Menschen haben wohl ein Streben nach Kohärenz in sich, den Wunsch, etwas zu hinterlassen in dieser Welt. Die Ironie an der Sache ist, dass sie, in dem sie das tun, anderen Menschen wieder gleich sind. Man nennt das die Dialektik vom Allgmeinen und Besonderen – ach, wie hochtrabend, nicht wahr? Ein Beispiel gefällig? Wenn ein Patient im Krankenhaus die Diagnose „Blinddarmentzündung“ gestellt wird, geht es dabei zwar immer um einen höchst individuellen Fall des Patienten X, gleichzeitig ähnelt Fall B immer in seiner Struktur Fall A, da Blinddarme nun mal von Natur aus gleich sind und erst durch die Selbstähnlichkeit der Strukturen ein individuelles Muster zur Intervention, sprich: zur Behandlung, angeboten werden kann. Das wiederum ist die Grundlage jeder Profession. Der allgemeine Fall, der durch ein individuelles Muster zu etwas Besonderem wird. Der Arzt muss ja schließlich wissen, wo sich das Organ befindet, welche Dinge es zu beachten gilt und so fort.

Auch auf menschliche Verhaltensmuster lässt sich das Phänomen der Selbstähnlichkeit anwenden. Beispiel Fitness: Wir bleiben fit, um einem gewissen Ideal zu entsprechen und erleben uns dabei vielleicht sogar als zufrieden und ausgeglichen. Dem „Besonders fühlen“ des Einzelnen liegt allerdings eine allgemeine Struktur zugrunde. Beziehen wir das mal auf das Sujet Fitness-Studio, so wird klar: Der Einzelne fühlt sich durch das regelmäßige Trainieren mehr oder minder gut, entspricht aber in seiner Verhaltensstruktur den Wertforderungen der Gesellschaft, die durch das Gesund- und Vital-Sein zur allgemeinen Prämisse erhoben hat.

Überspitzt könnte man sagen, je freier sich das Individuum innerhalb vorgebener Gesellschaftsstrukturen sieht, desto mehr entspricht es der gesellschaftlichen Tendenz zurUniformierung menschlicher Bedürfnisse. Wir shoppen und fühlen uns beim Kauf glücklich, entsprechen damit aber der gesellschaftlichen Prämisse des Konsums. Wir kaufen uns Kleider, die wir nicht brauchen, nur, um abends in der Disco hundert anderen Menschen ähnlich zu sehen, die einen ähnlichen Kapuzenpulli anziehen. Selbst Subkulturen wie Punks und Co. transportieren in ihrem Protest immer ein Stückchen von dem System mit, das sie so verabscheuen, denn ohne das System und im Protest gegen es, hätten auch sie ihre Daseinsberechtigung verloren. Echter Individualismus fällt auf, kostet Anstrengung und Kraft und nur wenige halten ihn aus.

Natürlich wird uns der Wunsch nach Selbstähnlichkeit in die Wiege gelegt. Wir werden sozialisiert, unsere Eltern erklären uns die Welt und dann, mit Zwanzig spätestens, merken wir, dass doch alles ganz anders läuft. Die große Revolution und so. Der Phase der Adolseszenz wieder entkommen, bauen wir uns dann ein Leben auf, das wir noch zehn Jahre zuvor nicht mal mit einem Schleifchen dran geschenkt haben wollten. Ja ja, vertrauen auf altbewährte Werte werden Sie sagen und so ganz Unrecht haben Sie damit wohl nicht. Wir nähern uns im Alter wieder der Systemschnittmenge an, werden mit der allgemein gültigen Struktur der Gesellschaft selbstähnlich. Ein bekannter Soziologie, der sich mit der Markenbildung in Unternehmen beschäftigt, beschrieb Selbstähnichkeit so: „Wenn Sie sich die Form eines Porsche ansehen, ist die immer ähnich. Egal, ob 911er oder Cayenne, Sie wissen, wenn ich hier einsteige, kann ich auf Porsche-Feeling vertrauen“.

Genug der Werbung. Aber genau das Vertrauen in Altbewährtes macht den Vorzug der Selbstähnlichkeit aus. Wir spüren intuitiv, dass wir anderen ähnlich sind, dass wir wollen, was sie wollen, begehren, was sie begehren. Das gibt uns Sicherheit. Auch in der Systemtheorie ist der Wille der Systeme zum Ausgleich, zur Homöostase, bekannt. So bewegen wir uns in einem latenten Gleichschritt in eine bereits vorgegebene Richtung, ohne uns dessen immer bewusst zu sein, möchten individuell wahrgenommen werden und sind doch immer zutiefst uniform. Solche Bahauptungen aufzustellen, das sieht mir mal wieder ähnlich, oder?

Überlegungen zur Sozialisation im kapitalistischen Gesellschafts-Kontext

In einem von Nebelschwaden durchzogenen, trüben und feuchten 25. Dezember finde ich nun also doch noch ein gewisses Maß an Ruhe und Entspannung. Es ist eine Form der Zeitlosigkeit, oder vielmehr, das Aus-der-Zeit-Gelöst-Sein, was mich zwischen meinen Büchern und denen sich aus ihnen entfaltenden Gedankenwelten ein wenig zur Ruhe kommen lässt. Ob man das nun besinnlich nennen mag, das wage ich zu bezweifeln. Vielmehr ist es eine Art des über das Jahr hinweg stets verlorenen geglaubten Egozentrismus, der Besinnung auf das Eigene, auf das Selbst, das endlich nicht von einem künstlichen Tagesablauf determiniert wird und sich nun endlich von der schalen, bröckelnden Fassade einsozialisierter Konventionen und Normen befreien darf.

Schade nur, dass sich dieser fragile Charakter der Freiheiten, die sich aus dem temporären Auf-der-Stelle-Treten-Dürfen ergeben, wohl nicht über das nächste Jahr hinweg bewahren lassen. Und ich denke an Marx, der sinngemäß schrieb, dass Menschen zwar ihre eigene Geschichte machten, dass diese, die Geschichte selbst, sich aber immer nur unter bereits vorgegebenen Umständen vollziehe*. Gesellschaftstheoretisch lässt diese Ansicht leider nicht viel an emanzipatorischem Potential zur Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit zu, da die Windungen des Lebensweges demnach ja schon biographisch angelegt sind, aber ich teile sie mehr als die existenzphilosophischen Ansichten eines Martin Buber oder die oft selbstgefälligen Omnipotenz-Phantasien mancher Konstruktivisten, die einer Begegnung oder dem Selbst mehr schöpferisches Potential zuschreiben, als beispielsweise einer Überweisung des Arbeitsamtes am Monats-Ersten.

Gesellschaftlich Ungleichheit lässt Menschen arm werden – materiell und geistig. Geistig insofern, als dass die materielle Armut oder auch die materielle Abhängigkeit dazu beitragen, ein systemkonformes Verhalten an den Tag zu legen. Eben das Arm-Sein ist es, aus dessen Klauen sich Betroffene aus eigener Kraft oft nur schwer befreien können, da sie eben das gesellschaftliche Korsett daran hindert. Wo materielle Ungleichheit als gelebtes Paradigma die Lebenswirklichkeit und die Lebenswelt der Menschen bestimmen, dort ist wenig Raum zur persönlichen Verwirklichung. Wo monotone Arbeitswelten eine rein mechanische Tätigkeit fordern, sind keine abschweifenden Gedanken gefragt und wo Arbeiter und Arbeiterinnen sich in dem immer komplexeren Produktionsprozess verlieren, geht auch ein wichtiger Aspekt der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit selbst, das Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Relevanz für das Gesamtsystem, verloren. Die Wurzeln der gesellschaftlichen Ungleichheit sind dabei schon zu finden in den primären Sozialisations-Instanzen, namentlich schon in der dyadischen Beziehung zwischen Mutter und Kind, dem Elternhaus und später der Schule, indem diese Instanzen es sind, die das Kind auf die für die Gesellschaft so wichtige Form der späteren Unterordnung im kapitalistischen Produktionsprozess vorbereiten. Erst durch diese, dem Grundverständnis nach subtile Formen der Sozialisation, wird das Individuum empfänglich für konformistische Perspektiven, wird es gefügig und internalisiert in ihnen den Glauben an die Notwendigkeit einer Unterwerfung, um materielle Sicherheit erlangen zu können.

Das Opfer, das es dabei erbringt, ist hoch. So reift in ihm durch derlei Sozialisationsstrukturen schon früh der Irrglaube in die mangelnde, eigene gesellschaftliche Relevanz und fördert vice versa die Perspektive des Wir-da-unten und Die-da-oben.

Um den Kreis zu schließen: Oft haben Menschen nicht den Luxus erfahren, ihren eigenen Gedanken nachhängen zu dürfen. Und genau darin liegt die Crux: Denn indem einer Vielzahl von Menschen systematisch die eigene Begrenztheit eingeredet wird, sind diese zwar für den kapitalistisches Produktionsprozess das wertvollste Gut, wissen aber nicht um ihre systemrelevante Bedeutung und finden sich auf dem Boden der harten, materialistischen Realität wieder. Dort sind es die offenen Rechnungen, die überteuerten Schuhe für die Kinder, die die Lebenswirklichkeit bestimmen und die die Dependenz zwischen Arbeit, Geld und Arbeitgeber zu einer unausweichlichen, kapitalistisch-determinierten Trias erwachsen lassen, die dem Einzelnen tagtäglich vorwurfsvoll suggeriert, es sei das Höchstmaß an Glück, für sieben Euro Stundenlohn am Fließ-Band zu stehen, während sich die Konzernbosse Milliarden-Gewinne in ihre Taschen stopfen. Welch neurotisches Fundament, auf das der Kapitalismus doch fußt…

*Das ursprüngliche Zitat stammt aus der von Marx im Mai 1852 veröffentlichten Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ und soll der Vollständigkeit halber hier aufgeführt werden:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“