Zum Begriff des Neoliberalismus. Eine hermeneutische Analyse.

Die Wurzeln des neoliberalen Konzepts gründen in einer Enttäuschung, namentlich in der negativen Erfahrung der Auswirkungen eines ungebremsten Marktradikalismus, wie er sich insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen im letzten Jahrhundert zeigte. So entwirft er, bezugnehmend auf die Vorstellungen des Ordoliberalismus der Freiburger Schule, zunächst ein wirtschaftspolitisches Gegenmodell, in dem dem Staat als Referenzrahmen eine Sicherungsfunktion zukommt. Der Neoliberalismus, so wie ihn LippmanHayek et. al. interpretierten, sollte ursprünglich sowohl eine antikommunistische, als auch eine antikapitalistische Doktrin manifestieren.

Dabei gab es zunächst kein gemeinsames meta-theoretisches Fundament. In den 1930er Jahren wurden in der Freiburger Schule sowie in der Chicago School lediglich Ideen gebündelt, deren Zielsetzung in der wirtschaftlichen Freiheiheit unter der Lenkung eines starken Staates bestand. Gemeisam war diesen Ideen jedoch eines: Sie waren weit entfernt von jenem Marktfundamentalismus, wie wir ihn heute mit dem Begriff des Neoliberalismus in Verbindung bringen.

In seinem im Jahr 1998 veröffentlichten Buch „Profit over the people“ vertritt Noam Chomsky die These, dass der Neoliberalismus weltweite Hegemonie erlangt, und zur Priviligierung einiger weniger Reicher auf Kosten einer Mehrheit geführt habe. Damit kommt er der neomarxistischen Interpretation des Begriffs nah, die den Neoliberalismus als eine Reaktion auf die Schwächung kapitalisitischer Herrschaftsansprüche sieht und ihm einen Willen zur Machtherstellung und Machtfestigung bescheinigt. Ziel dieses Klassenkampfes von oben nach unten sei demnach die Herrschaft ökonomischer Eliten.

Wenn wir also heute von Neoliberalismus sprechen, sollte uns, gerade wenn wir Linke sein wollen, seine begriffliche Entwicklungsgeschichte bewusst sein. So  meint dies eine Neukonzepition des Wortes in einem politischen Gesamtkontext, und zwar in dem Sinne, als dass bei der Neuinterpretation des Begriffs

  1. von der Idee eines quasi-absolutistischen Herrschaftsanspruches der  Machteliten über die schweigende Mehrheit ausgegangen wird
  2. mittels neoliberaler Ideologie die monetären gesellschaftlichen Unterschiede bewusst herbeigeführt würden, um Erträge bzw. Dividenden zu maximieren
  3. die informelle Gleichschaltung der Massen vorangetrieben würde, um den politischen Status Quo zu erhalten
  4. der Markt als biologistische Instanz betrachtet und ihm damit eine selbstregulative Kraft unterstellt wird, die keiner Einmischung von außen bedürfte
  5. den Regierungen kapitalistischer Staaten eine generelle Nähe zu Großkonzernen unterstellt wird
  6. von Eliten gesprochen wird, diese aber nur wage benannt werden
  7. von gemeinsamen Interessen dieser Eliten ausgegangen, und ihnen eine Zielsetzung unterstellt wird
  8. ein theoretisches Konstrukt geschaffen wird, das multifaktorielle gesellschaftliche Phänomene erklär- und verstehbar macht, indem es ihnen eine ideologische Motivation unterstellt und sie simplifiziert
  9. ein Abstraktum geschaffen wird, das sich auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche anwenden lässt
  10. eine quasi-darwinistische Sozialethik unterstellt wird, indem sie der Wirtschaft als solche jegliches Maß an Menschlichkeit abspricht, und den arbeitenden Menschen als lediglich funktionales Subjekt betrachtet, dessen Arbeitskraft verwert- und bewertbar im Sinne eines kompetitiven Kräftemessens sein muss

Zu allererst ist der Neoliberalismus unsichtbar und tritt nur in Form seiner Symptome zu Tage, das macht ihn im wahrsten Sinne des Wortes unbegreiflich, weder falsifizier-, noch verifizierbar. Nun gilt bloßes Nicht-Sehen noch nicht als Beleg für die Nicht-Existenz eines Sachverhaltes. Gehen wir davon aus, dass Symptome wie gesellschaftliche Ungleichheit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Kriege und so fort, sich nur aufgrund neoliberaler Interessen manifestieren. Dann bleibt doch immer noch die Frage, ob erstens gemeinsame Motivationen der so genannten Eliten überhaupt bestehen und wenn, sich diese nicht besser mit einem anderen, schärferen Begriff bezeichnen lassen.

Sind die gesellschaftliche Ungleichheit, die zunehmende Privatisierung, Flüchtlingsströme etc. nicht einzig das Ergebnis eines gewinninorientierten Postkapitalismus, der Unternehmen zunehmende Freiheiten zubilligt, indem er eine Konzern-Aristokratie gebiert, deren Handslungsmaximen mit dem Wort neoliberal in den Bereich des Sektiererischen verrückt werden? Machen wir  Linke es uns nicht zu einfach, alles und jeden als neoliberal abzutun?

Ist der Neoliberalismus nicht selbst ein Symptom, um eben jenen Postkapitalismus und dessen negative Folgen zu skizzieren? Denn weltweit betrachtet hat dieser Kapitalismus seine Stärke nur durch jene Eigenschaften gewonnen, die wir dem Neoliberalismus zuschreiben. Seiner Natur nach ist der Kapitalismus parasitär, individuell und ökonomisch ausbeutend und ohne jegliche humanistische Moral. Sein einziges Paradigma ist das der ökonomischen Gewinn- und Machtmaximierung. Ob sich dieses mittels Kriegen oder Börsenspekulationen realisieren lässt, ist ihm einerlei.

Es ist die Verwobenheit von Macht- und Geldströmen, was das Wesen des Postkapitalismus kennzeichet. Insofern ist er geschichtlich besonders, als dass er sich der Komplexität moderner Gesellschaften bedient, um sein Machtspektrum zu erweitern und neue Märkte zu erobern.

Postkapitalismus stellt Eigeninteressen vor das Gemeinwohl, der Konzern diktiert hierarchisch, was der Einzelne zu tun hat. Das Individuum wiederum wird zu einem funktionalen Teilchen degradiert, dessen Glück in seiner hedonistischen Egomanie viel mehr gründet, als in autonomer Willensbildung. Es geht darum, was Chomsky manufacturing consent nannte, den Gewinn der absoluten Deutungshoheit. Der Einzelne soll und darf aufgehen in seiner Privatheit, darf seine Meinung auf Onlineplattformen kundtun, sodass sie im digitalen Nirvana verpuffe.

Den Systemmedien kommt hierbei eine Kontroll- und Regulationsfunktion zu, denn sie bestimmen, quasi fremdgesteuert von den Interessen privater Geldgeber, inwieweit Geschehnisse ins öffentliche Bewusstsein eindringen und interpretiert werden sollen. Chomsky nennt das Propaganda.

Zurück zum Begriff. Hinter Neoliberalismus versteckt sich also eine Sonderform des Kapitalismus und nur dann, wenn wir ihn klar benennen, könnten wir ihn überwinden. Nein, es geht dabei nicht um Wortklauberei, sondern um eine Emanzipation linken Gedankenguts, das die Fesseln der begrifflichen Unschärfe sprengt, und sich nicht länger leeren Begriffsschablonen bedient.

Foto: Noam Chomsky, activism Munich (c)

Warum uns die Verstaatlichung nutzt

Eine Rückführung staatlicher Ur-Funktionen zu ihren Wurzeln ist dringend notwendig, um die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken.

Sahra Wagenknecht lässt es zwar nicht mehr so oft verlauten wie früher, als sie noch aktive Kommunistin und Teil der kommunistischen Plattform war, aber: Eine Verstaatlichung diverser gesellschaftlicher Teilbereiche tut Not.

Weshalb das so ist, hat weniger mit einer linken oder wie auch immer gearteten Weltsicht, als vielmehr mit einer gesellschaftlichen Neuausrichtung, ja, einem Perspektivenwechsel zu tun. Und zwar weg von einer den Menschen als verwertbares Humankapital betrachtenden Sichtweise, hin zu einer auf Nachhaltigkeit und Sinnhaftigkeit angelegten Neugestaltung von gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens. Nein, dabei geht keineswegs, und das betone ich all zu deutlich, um tendenziell religiös oder gar grundlagentheoretisch inspirierte Handlungsempfehlungen. Es geht um eine Stärkung des Staates, zugunsten der Stärkung der Menschen, die in ihm leben und zwar deshalb, weil die Diversivikation sowie zunehmende Spezifikation ein technokratisches Unternehmertum erst haben entstehen lassen, dessen Motivation und primäres Ziel die Ertragssteigerung bei gleichzeitiger Anwendung des Prinzips der ökonomischen Gewinnmaximierung sind.

Konkret meine ich mit Unternehmertum einerseits Institutionen des pekuniären Sektors, namentlich Banken, deren eigentliche Aufgabe, die Kreditvergabe an mittelständische Betriebe sowie an Kleinsparer immer mehr an Bedeutung einbüßte. Heute sind Banken nicht selten multi-national aufgestellte Global-Player, die an hochspekulativen Geschäften satte Renditen verdienen, ohne dass diese Renditen an in realitas existierende Werte wie Wohlstand, Menschlichkeit oder gar Subsidiarität geknüpft werden und für die Mehrheit der Menschen eine positive Auswirkung hätten. Gerade bei den Banken, ja sogar im Versicherungssektor, hat die Privatisierung der Daseinsvorge, das heißt: die Aufgabe eine der wichtigsten Errungenschaften aus der Entwicklungsgeschichte des Sozialstaats, zu einer Entkopplung gesellschaftlicher Teilbereiche geführt, was zum Wohlstand einer Minderheit, aber zur Existenznot der Mehrheit unmittelbar beiträgt.

Schauen wir uns den traditionsreichen Sektor der alten Professionen an, so sieht es hier keineswegs besser aus. Anwälte und selbst Notare, also diejenigen, die entsprechend ihres Habitus unmittelbare oder zumindest semi-staatliche Funktionen ausüben, wirtschaften in die eigene Tasche. Im Falle der Notare stellt hierbei noch ihre quasi-monopolistische Marktsituation eine Besonderheit da. Da durch staatliche Regularien einerseits sowie Monopolismus andererseits eine Zwangssituation für das Klientel ensteht wird klar, warum es  den benannten Berufsgruppen finanziell bestens geht.

Falltheoretisch greifen Professionen immer dann ein, wenn Prozesse des Erleidens entstehen, um die Alltagspraxis des Klienten wieder in eine Routine zu überführen. Focussiert sich jedoch derjenige, der mit dem Fall betraut wird, auf finanzielle Gegebenheiten, wird der Begriff der Profession selbst ad absurdum geführt.

Nun geht es mir zum einen darum, in einer werteorientierten Gesellschaft mittels Verstaatlichung alle Funktionen der Daseinsvorge, aber auch innerhalb des Gesundheitswesens, zu jeder Zeit zugänglich zu machen. Gleichzeitig meine ich aber auch, dass die innerhalb dieser Teilbereiche agierenden Professionen nicht vom privaten Gewinn, sondern vielmehr durch möglichst neutrale Interssen geleitet werden müssen.

Anders formuliert kann und darf die Privatwirtschaft jene Segmente für sich vereinnahmen, bei denen Kunden zu Konsumenten mit einer grundsetzlichen Wahlfreiheit werden. Wo diese jedoch nicht besteht, muss das eine neutrale und nicht neo-liberal geleitete neue Staatlichkeit als Bindeglied übernehmen, um dem Einzelnen eine gesellschaftliche Teilhabe jenseits von Einkommen und Herkunft zu ermöglichen.

Insbesondere in der Rentendebatte wäre eine von staatlicher Seite inspirierte Abwendung vom neo-liberalen Kurs ein echter Gewinn, der in den Unternehmen schnell Früchte trüge, ebenso die Stärkung der Rechte Beschäftigter im Mindestlohn-Sektor, die Begrenzung von Manager-Gehältern und so fort.

Um diese Vorstellungen nicht im Nirvana wirklichkeitsfremder Gesellschaftsutopien auflösen oder sich gar in entmündigenden Big-Brother-Fantasien realisieren zu lassen, bedürfte es einer Regierung, die an ihre Bürger glaubt und ihnen Freiräume trotz des entstehenden einseitigen Abhängigkritsverhältnisses zubilligt und sie nicht länger ungebremst den monetären Interessen der Privatwirtschaft ausliefert. Diese Einsicht braucht wohl noch Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nur jenseits machtpolitischer Interessen in die Tat umzusetzen lässt.