Über Werte, Waffen und den Tod

ein Kommentar von Andreas M. Altmeyer

Was wäre, wenn wir versuchten, die Welt mit anderen Augen zu sehen, wenn es uns gelänge, die Perspektive zu verändern, aus der wir auf die dortigen Geschehnisse schauten? Wäre dies nicht eine Zäsur, die uns in jenen hektischen Zeiten geböte, Luft zu holen von den Zeitenwenden, von den Kehrtwenden und damit von den Propaganda-Lügen, die uns tagtäglich im medialen Dauerschauer entgegenpreschen und uns für dumm verkaufen wollen? Die uns bombardieren mit der Schlagkraft von taktischen Waffensystemen, die uns einlullen wollen und hinabziehen in eine technisch verklärende Sphäre der todbringenden Maschinerien und damit das Undenkbare, den Weltenbrand, den Rückschritt auf der evolutionären Skala im Gleichschritt wieder sagbar, wieder salonfähig machen?

Es sind dies Zeiten, in denen Journalisten der einst kritischen Blätter Spiegel und der Zeit sich mit angespitzter Feder, im Idealfall mit abgeschlossenem Studium, Dienstwagen und Wohlstandsbauch zu willfährigen Militärexperten machen, die uns von Frontverläufen, Panzerlieferungen, von zaghaften und dann doch durchsetzungsstarken Politikern erzählen wollen, die Bilder in uns schaffen von der angeblichen Normalität des Martialischen, von der Selbstverständlichkeit des drohenden nuklearen Endes, die die permanente Bedrohung und wachsende Aufrüstung zum neuen Business as usual und vor allem „Life as Usual“ erklären.

Statt gegen den zutiefst devoten Kurs unserer Führer und ihre Unfähigkeit, die Interessen derer, die sie vertreten sollen, anzuschreiben, frisst die Journalie dankbar am blutigen Trog das neue politische Vokabular, nimmt es in sich auf, verdaut es, und präsentiert es uns als pseudo-elaborierte Ausscheidungen in den Kommentarspalten dieses Landes. Kommentare sind dies, die aufhorchen lassen, die aufschrecken lassen, denn deren Schreiberlinge erklären viel weniger als dass sie verklären, liefern den politischen Marionetten meist ein Erklärungsmodell für ihren Kurs, in vorauseilendem Gehorsam, immer schön auf Kurs und stets auf gleicher Linie.

Was mag sie, die vom Leben meist nur die süßen beruflichen Trauben serviert bekamen, die sich sonnen können in der Gewissheit der wirtschaftlichen Versorgung und der beruflichen Sicherheit, dazu getrieben haben, so abzurücken von ihrem eigentlichen Auftrag, der da lautet: Berichte neutral und stets wahrheitssuchend?

So mag die Wahrheit gerade in jenen Tagen zwar kaum oder nur schwer zu finden sein für jene, die tagtäglich ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, allerdings: Im brandgefährlichen Aufrüstungsgebaren, das sowohl aus humanistischer als auch sozialstaatlicher Perspektive sinnlos ist, liegt sie, da bin ich mir sicher, keineswegs.

Rücken wir ab von den Details und betrachten uns den Zeitstrahl der Geschichte aus einiger Entfernung, so sind in Deutschland gerade jene Parteien mit friedenspolitischer Programmatik rasch von ihren Kernwerten abgerückt, wenn die Zeiten rauer und die Komfort-Zone der politischen Entscheidungsfindung für sie schmaler wurden. Ich erinnere hier an die Mitbewilligung der Kriegskredite durch die SPD kurz vor dem ersten Weltkrieg. Die Szenarien und geopolitischen Beweggründe mögen sich geändert haben, doch die Unfähigkeit, geopolitische Konflikte mit anderen Mitteln als mit Waffen zu lösen, besteht leider fort.

Gerade wenn eine politische Kaste für sich den Begriff der „Werte“ vereinnahmt (siehe die „wertegeleitete Außenpolitik“ Baerbocks), scheint es so zu sein, dass das politische Sujet und die Handlungsmotivation, mit der man an seine Herausforderungen herantritt, alles andere als „wertgeleitet“ sind. Vielleicht muss unsere politische Kaste erst schmerzlich erkennen, dass man die Schritte auf dem brüchigen internationalen diplomatischen Parkett auch nie „wertegeleitet“ machen darf, denn wenn man für sich proklamiert, die ominösen „Hüter der Werte“ zu sein, rückt man das politische Gegenüber quasi per Automatismus in den Bereich des politischen Parias, mit dem „man“ weder zu verhandeln hat, noch sich auf den Pfad einer gemeinsamen diplomatischen Lösung zu begeben braucht. Gleiches gilt momentan im Bezug auf Russland, das in eine Sphäre des Dämonischen hineingerückt wird, indem man es, statt konstruktive Lösungen zu finden, diskreditiert. Aber das mag wohl die Art von Propaganda sein, auf die man im Mainstream-Sektor der Medien setzt, und um die ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung kreist wie die Motte um das Licht. Sie schaut auf diesen Konflikt aus der Innen-, statt auf der Außenperspektive, die man zweifellos auch die gewachsene, verkettete, historische Perspektive nennen könnte. Damit meine ich die Geschehnisse auf dem Maidan 2014 genauso wie die Mächte, die an einer Veränderung der machtpolitischen Strukturen in der Ukraine schon immer ein gewichtiges Interesse hatten, und die Russland stets weiter in einen sich verengenden Entscheidungs-Korridor drängten.

Natürlich ist Putin der Verursacher des Krieges in der Ukraine, aber er alleine ist nicht Schuld daran, dass es so kam, wie es kam. Denn wollen wir die Gesamtheit des Konfliktes betrachtet, gebietet sich, wie ich schon schrieb, die Wahrheit zu benennen. Zur Wahrheit gehört nun auch, dass die Ukraine, nach dem gewaltsam propagierten und nachweislich von der CIA initiierten Regime-Change im Jahre 2014, massiv seitens der USA aufgerüstet und die russischstämmige Bevölkerung in den Ostgebieten vertrieben und ermordet wurde. Darüber besteht keinerlei Zweifel.

Und eben diese Verkürzung, dieses brachiale Herunterbrechen des Konfliktes auf einen Kampf zwischen Gut (dem Westen) und Böse (Russland und China), das ist in meinen Augen das Schändlichste, was unsere Medien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen, tun können, da diese Form von Berichterstattung Feinbilder schafft, statt lang bestehende Freundschaften zu nähren.

Es zeigt aber auch noch mehr: Dass nämlich der Vertrauensvorschuss, den die Wählerinnen und Wähler unseren Regierungsparteien gaben, indem sie sie wählten, auf tragische Weise missbraucht wurde. Wenn eine sogenannte Friedenspartei mit Frieden selbst Wahlkampf macht, Plakate aufhängt mit der Aufschrift „Kein Waffenexport in Kriegsgebiete“, und nun zum olivgrünen verlängerten Arm des militärisch-industriellen Komplexes geworden ist – was sie genaugenommen schon lange war – so hat dieses parlamentarische System verspielt. Denn in Zeiten, in denen wir Werte so oft proklamieren und die Fahne für sie hochhalten, so sollten und müssen wir das gerade dann tun, wenn es schwierig ist. Waffen verkörpern nie Werte. Sie sind Garanten des Rückschritts und des Todes. Das gilt immer, für alle Seiten, zu allen Zeiten, ob in Ost, West, Nord oder Süd.

Wird ohne Putin alles besser? Über politische Naivität in eisigen Zeiten

von Andreas M. Altmeyer

Immer wieder wird in Stammtisch-Diskussionen wohlfeil kundgetan, nur Putin müsse „weg“, dann würden sich die lateralen Beziehungen schon wieder von allein stabilisieren und der Krieg wäre vorüber. Dies ist allerdings reines Wunschdenken, das wohl an Naivität und politischer Unkenntnis nicht zu überbieten ist. Zunächst einmal muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei Vladimir Putin, auch wenn es uns die westlichen Medien glauben machen wollen, nicht um einen ultra-nationalen Hardliner handelt. Anders als viele Teile der Moskowiter Clique im Kreml handelt er berechnend und, in weiten Teilen zumindest, einer Logik folgend. Dies gilt für den Einmarsch in die Ukraine genauso wie für die damit verbundenen Ziele, nämlich der Errichtung einer geostrategischen Sicherheitszone unter russischem Einfluss, verbunden mit der Verhinderung einer weiteren NATO-Expansion im zentraleuropäischen Raum. Diesen geostrategischen Schachzug des Krieges in der Ukraine hätte man erahnen können, hätte man auf der 43. Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 den Worten Putins gelauscht. Vielleicht hat man dies von US-amerikanischer Seite getan, um eben jenen Krieg im Herzen Europas billigend und im eigenen Interesse in Kauf zu nehmen.

Es geht mir, und darauf lege ich besonderen Wert, keinesfalls um die Rechtfertigung eines Krieges, ganz egal von wem er ausgeht.

Aber jedes Land hat Sicherheitsinteressen – und spätestens seit dem von den USA befeuerten Putsch in der Ukraine und massiven Waffenlieferungen von US-amerikanischer Seite war klar, dass Moskau in irgendeiner Weise würde reagieren müssen – zumal auch die Ukraine alles getan hat, um zu einer Verschärfung des Konflikts beizutragen. Immerhin wurden die ukrainischen Ostgebiete ab 2014 systematisch von beiden Seiten unter Beschuss genommen – unter beiderseitigem Verstoß gegen Minsk II.

Vorausgegangen war der US-amerikanischen verdeckten Intervention, die unter dem Namen „Euromaidan“ in die Geschichtsbücher einging, die Absage Janukowitschs an das Assoziierungsabkommen mit der EU, das auch mit einem Aufbau einer gemeinsamen, EU- und damit NATO-zentrierten Sicherheitsarchitektur einhergegangen wäre. Dass dies Russland keinesfalls hatte hinnehmen können, ist logisch. Zusätzliche Provokationen in Form von militärischen Manövern und einer ständigen Flankierung der EU-Außengrenze durch AWACS-Aufklärer sowie der Stationierung eines aus der Zeit gefallenen Raketenabwehrschildes in Nord-Ost-Polen trugen ebenfalls bewusst zur Aushebung der diplomatischen Gräben bei. Der Aufbau einer tragfähigen europäischen Sicherheitsarchitektur, losgelöst von den USA, geprägt von der Zusammenarbeit mit Russland, war spätestens seit München gescheitert, auch wenn Putin immer wieder und andauernd diesbezüglich Kooperationsangebote gemacht hatte.

Doch noch einmal zurück zur Persona Putin selbst. Er stand schon spätestens seit seiner zweiten Amtszeit insofern unter Druck, als dass sich vor allem nationale Militärs seitens des US-Imperialismus bedroht und als Großmacht gekrängt fühlten. Viele von ihnen wünschten sich sogar eine noch härtere Gangart gegenüber dem verhassten Westen, dessen Interesse in ihren Augen lediglich im Halten des US-amerikanischen Kurses lag und liegt. Würde Putin also von der Bildfläche verschwinden, so müsste man zunächst mit einem gefährlich instabilen Machtvakuum rechnen, aus dem ein deutlich radikalerer Flügel hervorgehen könnte und wahrscheinlich auch würde. Denn im Kreml gibt es eine Vielzahl von Lagern, von denen nicht wenige durch eine orthodox-nationalistische Agenda bestimmt sind.

Namen eines potentiellen Putin-Nachfolgers zu nennen, ist genau deshalb sehr schwer. Ich will es dennoch versuchen. Als Übergangslösung könnte Lavrow herhalten, der ob seiner jahrelangen Erfahrung im russischen Volk einerseits, aber auch seiner guten Vernetzung wegen punkten würde. Andererseits hat sich Medwedew bereits im Präsidentenamt bewährt, ist aber noch deutlich stärker abhängig von einer „Führungshand“, was zweifellos den Militärs in die Karten spielen würde. Doch auch radikalere Namen wie der des Tschetschenen-Kämpfers Kadyrow müsste man eventuell ins Auge fassen sowie den Namen Jewgeni Prigoschin, der nicht nur milliardenschwer, sondern auch der Chef der schlagkräftigen Wagner-Truppe ist. Prigoschin hielt sich eine Zeit lang im Hintergrund. Ein anderer Kandidat könnte der ehemalige Vize-Ministerpräsident und jetzige Moskauer Bürgermeister Sergei Semjonowitsch Sobjanin sein.

Es bleibt alles in allem ein Lesen im Kaffeesatz. Doch die Bedingung eines Friedens in der Ukraine an das Verschwinden Putins zu knüpfen vernachlässigt auch das Faktum, dass das Interesse eines Krieges in der Ukraine nicht nur bei Russland, sondern auch bei den USA liegt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die USA mittels einer militärischen Auseinandersetzung an der Ostflanke Europas zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. So nutzen sie für sich die daraus ergebende Möglichkeit; teures und schmutziges Frackinggas zu exportieren, andererseits profitieren sie von der Stagflation (sensu Hans-Werner Sinn), also der stagnierenden Warenketten gekoppelt an eine hohe Nachfrage und eine hohe Teuerungsrate.

Während die USA mit einem satten wirtschaftlichen Plus vom Ukrainekrieg profitieren, wird Europas Attraktivität als Handels- und Lebensraum nachhaltig geschwächt, und nicht nur die USA, sondern auch Russland verschieben ihren geopolitischen Fokus. Denn für die Russen wird zusehends China als verlässlicher Handelspartner attraktiver, gerade auch deswegen, da Projekte wie die „Neue Seidenstraße“ zusätzliche Gewinnpotentiale versprechen. Dennoch geht auch für die Russen mit Europa – wohl für Dekaden – ein über die Jahre verlässlicher Handelspartner – gleichzeitig aber auch eine wichtige diplomatische Partnerschaft, die über die Nachkriegsjahre hinweg Früchte trug, verloren. Während Russland also seine Verluste möglichst versucht zu kompensieren, können sich die USA in der Gewissheit wähnen, den Russen in der Ukraine ihr zweites Afghanistan beschert zu haben – obgleich sich Putin leider, und darin liegt sein Kardinalfehler, auf diesen Krieg überhaupt erst einließ.

Der wirkliche Verlierer in diesem Krieg sind natürlich zuallererst seine unzähligen Opfer – auf ukrainischer, aber auch auf russischer Seite. Was es für uns alle bedürfte, wäre keine doppelmoralisch aufgeladene Politik von transatlantischen Vasallen, denen die Interessen der Ukrainer, aber auch der Europäer völlig egal sind. Ihre Moral ist in Wahrheit doppelzüngig, da sie die Qualität kriegerischer Interventionen auf der Welt in verschiedenen Maßstäben misst. Und das ist das Drama: Sie haben es in all den Jahren nicht verstanden, eine Politik im Sinne des Volkes zu machen, sind getrieben von pseudo-moralischem Sendungsbewusstsein, statt von hehren Interessen, Industriesprecher des US-Imperialismus.

Was es nun mit aller Macht zu vermeiden gilt, ist es, Russland in eine Art nationalen Protektionismus hineinzutreiben. Auswege, wie das trotz einer EU-legitimierten Sanktionspolitik gelingen kann, liefert beispielsweise Frankreich, das keineswegs auf die Lieferung von russischem Uran für seine Atomkraftwerke verzichtet. Wir dürfen nie vergessen, dass Russland für uns ein ebenso wichtiger Handelspartner ist und uns dessen Belange und Interessen in unmittelbarer Weise tangieren, da sie uns im geografischen, aber auch historischen Sinne sprichwörtlich naheliegen.