Der deutsche Michel schweigt

Wenn in Frankreich die Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu demonstrieren, erzeugt das bei vielen Deutschen nur Kopfschütteln – mehr noch: Fassungslosigkeit, Unverständnis und nicht selten sogar schiere Wut. Und genau hier, so denke ich, liegt ein großes Problem. Denn so lange sich große Teile der Zivilgesellschaft und des Gemeinwesens mit den neoliberalen Ideen identifizieren und diese mittragen, solange muss man sich nicht wundern, wenn die politische Kaste auch in Deutschland ihren Schabernack bis an die Schmerzgrenze treibt.

Sie tut dies, so viel sei gesagt, weil wir sie gewähren lassen, weil wir letztlich unser Mandat als Bevölkerung niedergelegt haben und vielleicht noch von dem Irrglauben beseelt sind, dass uns diese Regierung der Ideologisch-Verbrämten erretten könnte von dem uns blühenden Schicksal, das eben aber diese politische Kaste und die Vorgängerregierung erst zu verantworten haben. Eingeläutet durch die Flüchtlingskrise 2015, zeigen uns die sogenannten politischen „Führer“ unentwegt, dass ihnen an der eigenen Bevölkerung, am eigenen Volk, nichts gelegen ist, außer wenn es als Zahlmeister für ihr skurriles Schauspiel herhalten soll. Statt die berechtigten Ängste der Deutschen ernst zu nehmen, die Sicherheit im öffentlichen Raum sowie an den Außengrenzen des Landes zu stärken und die ungebremste Einwanderungsflut endlich zu stoppen, regieren uns Baerbock, Scholz und Habeck bis ans Ende des Regenbogens, nur dass dort für die eigene Bevölkerung kein Topf voll Gold wartet. Ein Vorbild könnte hingegen die Reformierung der Einwanderungspolitik nach kanadischem Vorbild sein, um gezielt Fachkräfte zu gewinnen.

Der deutsche Michel, oder zumindest der wohlstandsgesättigte Part von ihm, findet dies wohl deswegen gut, weil er sich so, ob der sogenannten „wertegeleiteten Außen“ und ideologischen Innenpolitik, reinwaschen will von einem durch einen klimaschädlichen Neubau, SUV und zahllose Urlaubsflüge sich einstellenden schlechten Gewissen. Obendrein ist ja, das ist Merkel’sches Gesetz, die Einwanderungsflut stets alternativlos. Und wenn man sich an die von unserer Polizei freundlich begleiteten Flüchtlingsströme aus dem Jahre 2015 nach „good old germany“ erinnert, könnte man das tatsächlich meinen. Doch „alles Lüge“.

Die Grüne-Partei-Eminenz der Ahnungs- und oft Abschlusslosen, flankiert von einem dementen Kanzler und einer machtberauschten und nach links gerückten FDP, sorgt dafür, dass sich verdienter Wohlstand und die tradierte Kultur Deutschlands langfristig in Luft auflösen. Selbst Bismarck ist vor einer solchen links-grünen „Kulturrevolution“ nicht sicher – so „entnamte“ Annalena, die ja vom Völkerrecht kommt, den Bismarck-Saal des Auswärtigen Amtes. Das zeugt von Kurzsicht und Geschichtsvergessenheit. Doch der Deutsche Michel schweigt.

Er schweigt auch zu den Verfehlungen unserer politisch Verantwortlichen im Ahrtal, zu den mittlerweile nachweislichen Impfschäden, verursacht durch die Corona-Vakzine, die sich so viele Deutsche mit einem Anflug von devotem Enthusiasmus oder aufgrund des Gruppendrucks in die Arme jagen ließen. Die politischen Corona-Jünger währenddessen sind immer noch in Amt und Würden. Weil sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass man sie gewähren lässt – immer wieder. Und sie haben Recht.  

Der Deutsche Michel schweigt, wenn deutsche Familien wegen sogenannten Flüchtlingen aus ihren Wohnungen ausziehen müssen, wenn ukrainische Flüchtlinge in Nobelkarossen nach Deutschland kommen und wenn uns die Bundesregierung erklärt, dass gegen Putin vom internationalen Gerichtshof ein „Haftbefehl“ erlassen wurde. Der deutsche Michel fragt auch nicht, wo die Haftbefehle für Blair, Bush oder gar Obama bleiben, denn sein Gedächtnis ist kurz. Allesamt verstießen gegen das Völkerrecht, allesamt sind Verbrecher und gehören, wenn man schon solche Maßstäbe anlegt, ebenso vor den internationalen Gerichtshof. Doch der deutsche Michel misst mit zweierlei Maß, auch was die Anschläge auf Nordstream 2 betrifft und die Demontage des Industriestandorts Deutschland durch die eigene Regierung.

Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem man sich in einem obskuren Genderwahn von sich selbst entfremdet und von den eigentlichen, tieferliegenden sozialen Verwerfungen abgelenkt wird. In einem Land, das einhundert Milliarden Euro für Waffen und Tod ausgibt und auf der anderen Seite seine Sozialleistungen an Menschen verschenkt, die weder unser Verständnis vom europäisch gewachsenen Humanismus teilen, noch in die Sozialkassen eingezahlt haben. Sinngemäß hat ja schon der große Peter Scholl-Latour gesagt, dass man, wenn man dazu geneigt sei, ganz Kalkutta aufzunehmen, irgendwann selbst zu Kalkutta wird. Und darin liegt wohl eine tiefe Wahrheit.

Das Aufzeigen der Symptome für ein quasi schon „selbstverletzendes“ nationales Verhalten, ist das eine. Das Ergründen der Motive für ein solches wiederum etwas ganz anderes. Freilich ist man immer dazu geneigt, eine solche Erklärung monokausal herunter zu brechen, weil sie unendlich viele Nuancen birgt, die es zu berücksichtigen gilt. Doch die grobe Richtung, ein klares Muster, ist schon seit Jahren politisch erkennbar. Die deutsche Regierung hat sich spätestens nach der Post-Schröder-Ära vollends gemein gemacht mit den transatlantischen Interessen und der damit verbundenen Konfrontationspolitik gegenüber Russland. Dafür spricht die klare Abwehrhaltung, mit der der „amerikanische Westen“ in all den Jahren auf die Putin’schen Annäherungsversuche reagiert hat. So hat Putin am 25. September 2001 in seiner beeindruckenden Rede im Deutschen Bundestag betont, dass ihm an einem wirtschaftlich und sicherheitsarchitektonisch gemeinsamen Weg gelegen ist.

Auf westlicher Seite, um bei den sich allgemein darstellenden Mustern zu bleiben, überwog jedoch der Glaube an eine transatlantische Ausrichtung, gepaart mit einer von US-amerikanischer Seiten massiv vorangetriebenen Vernetzung in Think Thanks und NGOs, die wiederum Entscheidungsträger an öffentliche und politische Schaltstellen hievten.

Vielleicht ist diese Art des „Einnordenlassens“ für transatlantische Ziele auch eine Mischung aus „kolonialer“ Hörigkeit dem amerikanischen Kriegsherren gegenüber, der das Deutschland, wie wir es kennen, aus den Fängen des Faschismus befreite, und andererseits das Ergebnis einer daraus gewachsenen Verbindlichkeit. Vielleicht spielen aber auch politische Naivität, geostrategische Unkenntnis oder eben alles zusammen eine Rolle.  

Ich unterstelle den deutschen Aspiranten solcher NGOs noch nicht einmal eine böse Absicht, zu Recht, so denke ich aber, das Motiv und den Glauben daran, durch die Vernetzung einen entsprechenden Vorteil zu erhaschen. Dass dieses karrieristische Schema funktioniert, zeigen ja in persona Annalena Baerbock (Young Global Leaders) und Jens Spahn (Young Global Leaders). Diese beiden Beispiele spiegeln auch, wie sehr das WEF auf politische „Aufsteiger“ Einfluss nehmen kann und diese für seine Ziele instrumentalisiert. Dies scheint mir ein wichtiger Baustein im Erklärungsmodell für die deutsche Duckmäusigkeit der Regierenden.

Demgegenüber steht eine Bevölkerung, die einerseits im wahrsten Sinne des Wortes gesättigt und wohlstandsverwöhnt geworden ist. Die weiten Teile, die nicht zu den wirtschaftlich sichereren Gewinnern gehören, sind meist unpolitisch oder haben sich ihrem Fatalismus ergeben. Ein Beispiel gefällig? Im Jahr 2019 haben rund 25 (!) Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland bei der Bundestagswahl nicht gewählt. Was zeigt uns das? Dass sich ein nicht unerheblicher Teil in der Politik Deutschlands überhaupt nicht mehr repräsentiert sieht und/oder dafür nicht interessiert. Der andere Teil der „noch Wähler“ findet sich meist ab mit kunterbunten Koalitionsverhandlungen, denen politische Inhalte und Kernthesen zum Opfer fallen, mit Wahlversprechen, die nicht gehalten werden, mit einer Politik gegen das Volk. Oder man wählt eben klar die Opposition.

Die jetzigen Politiker profitieren sicherlich auch von dem Wert, den eine „Wahl“ in den Augen der meisten Menschen noch hat. Doch dieser Wert verblasst in einer Welt, in der die politischen Profile zusehends verschwimmen und sich auf einen US-amerikanischen Kurs ausrichten, der eigenen nationalen Interessen schadet.  

Eben jene Menschen, die an einen Wert der Wahlen überhaupt noch glauben, haben nicht verstanden, dass das System als solches inhärent krankt. Und eben diese Menschen stehen fassungslos daneben, wenn unsere französischen Nachbarn von ihrem ureigenen demokratischen Recht Gebrauch machen: dem Kundtun ihrer Meinung durch eine Demonstration.

Dass sich unser Volk in weiten Teilen hingegen bereits abgefunden hat mit der Aufweichung des Sozialstaates, der massiven Senkung des Rentenniveaus und dem sinnlosen „Verballern“ von 100 Milliarden Euro, zeugt von dessen Teilnahmslosigkeit, dessen Verharren in der eigenen Echokammer, der bequemen Resignation.

Neulich schilderte Thomas Haldenwang, der oberste „Verfassungsschützer“ unseres Landes, dass die Klimaaktivisten ihm keine großen Sorgen bereiteten, denn immerhin würden diese nicht die Regierung als solches in Frage stellen. Und genau da liegt das ganze Dilemma. Wir haben eine Generation aufgezogen, die selbst in ihrem politischen Verhalten strukturell apolitisch ist. Die so sehr in der Watte des Wohlstandes sozialisiert wurde, dass sie die Regierung für ihren gottgegebenen Souverän hält, die lauthals schreit, auf Asphalt klebt, so wie an ihrer eigentlichen Sehnsucht nach Wohlstand, WLAN und Datenvolumen.

Demokratie, lieber deutscher Michel, ist mehr als die Abgabe deines Stimmzettels am Wahlsonntag in der Mehrzweckhalle.  

Quo vadis Deutschland?

von Andreas M. Altmeyer

Eine Regierung, die auf die Spaltung der eigenen Bevölkerung und eine Politik setzt, die dieser nachweislich mehr schadet als nutzt, sollte ein Grund für jene Bevölkerung sein, das Verhalten eben jener Regierenden zu reflektieren. Umso schwerer verständlich ist es, wenn sie dies nicht tut. Wo kommt er her, der deutsche Wille zur Bequemlichkeit und Passivität?

Spätestens seit „Mutti-Merkel“ werden uns, der geneigten Bevölkerung,  im Top-Down-Prinzip bestimmte politische Entscheidungen als alternativlos verkauft. Dies war schon bei der Bankenrettung so – Sie erinnern sich vielleicht noch –, aber auch bei den Ereignissen der jüngsten Geschichte. Ob steigende Energiekosten, massive Aufrüstung oder Solidaritätsbekundungen gegenüber der Ukraine mittels Waffenlieferungen: All das scheinen, folgt man dem gängigen Mainstream-Flow, unausweichliche Handlungsmaximen zu sein, die, dem Hegel’schen Gesetz des Weltgeistes gleich, zwangsläufig geschehen müssen.

Ungeachtet einer interessengeleiteten Politik, die natürlich immer auch mit nationalstaatlichen Interessen einherginge, da nur auf jene Weise der nationale Zusammenhalt, aber auch die Souveränität des Landes und seine wirtschaftliche Leistungskraft gewahrt bleiben, scheint die aktuelle Bundesregierung losgelöst der Volksinteressen zu agieren. Anders ist es leider nicht zu erklären, dass eine pseudo-ethische-Handlungsmaxime beim Ukraine-Krieg zur ersten Bürgerpflicht erklärt wurde, während im Land selbst weite Teile der Bevölkerung in ein wirtschaftliches Zwangskorsett gepresst werden und sich sogar die Mittelschicht mit einer drohenden ökonomischen Notlage konfrontiert sieht. Gleiches gilt für eine Reihe mittelständischer und teilweise sehr traditionsreicher Unternehmen, die mit dem Gedanken spielen, aus Deutschland abzuwandern oder es bereits getan haben.

Es ist eine Politik der Reichen für wenige Reiche, bei der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Ein zutiefst neoliberales Mantra also, zu dessen willigem Erfüllungsgehilfen sich die rot-grüne Regierung längst gemacht hat. Wie Schröder zuvor, ist auch Scholz ein „Genosse der Bosse“, nur sitzen diese für Scholz nicht bei VW, sondern bei der Warburgbank in Hamburg und wohlweißlich auf der anderen Seite des Atlantiks.

Warum, so darf die Frage lauten, machen wir Deutschen das überhaupt mit? Wieso lassen wir es zu, dass eine Clique von machtbesessenen Lobbyisten ein Deutschland konzipiert, in dem die Interessen der Bevölkerung keineswegs vertreten werden.

Warum, so muss man auch fragen, lassen wir uns mit 9-Euro-Ticket-Trostpflastern und kurzzeitigen Benzin-Preis-Almosen „abcanceln“, während auf der anderen Seite Rüstungs- und Ölkonzerne die echten Kriegsgewinner sind? Wieso lassen wir uns überhaupt in die spalterische und hetzerische Attitüde der Mainstream-Journaille hineinziehen, die endlich ungehemmt ihre russophoben Neigungen ausleben kann, flankiert von einem administrativen EU-Patronat aus Lobbyisten und Speichelleckern, die ausschließlich auf ihre eigenen Vorteile bedacht sind? Wir sollten und müssen uns dagegen wehren.

Da nutzt es auch nichts, wenn wir mit vielen teilweise sehr treffsicheren Kommentaren Facebook befüllen. Es geht, und das muss die wahre Erkenntnis der vergangenen zwei Jahre sein, darum, dass uns diese politische Kaste nicht regiert, sondern lediglich als Befehlsempfänger reagiert. Dies müssen wir begreifen, müssen wir verstehen, und dann entsprechende Schlüsse daraus ziehen. Es ist eine Kaste der politischen Kurzstreckenläufer, die sich freiwillig einer transatlantischen Beugehaft unterzogen hat, um sich selbst und uns alle zu geißeln, ohne Fachkompetenz, ohne Skrupel, ohne Werte, dafür mit viel ideologisch inspirierten Ideen und einem Öko-Faschismus, der die Mittelschicht ausbluten lässt.

Glauben Sie, eine Annalena Baerbock hätte sich vor ihrem willkürlichen  Amtsantritt in Geostrategie verstanden oder je etwas von einem der wichtigsten US-Chef-Strategen namens Brzeziński gehört? Es wäre wünschenswert, auf alle Fälle, denn immerhin darf diese Frau die außenpolitischen Fäden der „noch“ bedeutendsten Wirtschaftsmacht Europas ziehen.

Stattdessen poltert sie wie eine „loose cannon on a rolling deck” vor den Mikrofonen der westeuropäischen Leitmedien herum. Dramatisch. Daneben die sorgenvolle Miene eines in seiner Rolle ebenso überforderten Wirtschaftsministers, der nur abrücken müsste von einer transatlantischen Doppel-Moral und die Schleusen von Nordstream I und II öffnen müsste, um die Bedenken der Bevölkerung, den wirtschaftlichen Einbruch und die Abwanderung von Unternehmen zu verhindern. Dann noch ein Kanzler, der am Warburg-Syndrom, aka post-monetäre Amnesie, leidet. Glauben Sie, dieses Dreigestirn holt uns irgendwo raus und hilft uns weiter, irgendwie?

Der deutsche Michel sitzt währenddessen vor dem PC und regt sich auf. Schweigend und in sich gekehrt – zumindest im Reallife, wie man es heute nennt. Einem Volk, das keine Revolution möchte, kann man sie nicht aufzwingen.

Benommen und mit Gleichgültigkeit sitzen wir in unseren Stuben, und hoffen: auf die Monotonie unserer kleinen Leben mit ihren kleinen Fluchten. Den Grillfesten am Abend, den Urlauben an der Nordsee. Auch das ist menschlich – aber längst keine Rechtfertigung zur Passivität. Wir erdulden ein Verhalten unserer führungspolitischen Kaste, das weder hinnehmbar, noch ertragbar ist. Genau diese Kaste sonnt sich im Schoß der wirtschaftspolitischen Vollversorgung und lässt für uns ein paar Krümel übrig – wenn überhaupt. Und viele von uns geben sich damit zufrieden!

Vielleicht ist es mit der spätrömischen Dekadenz vergleichbar, von der ja Westerwelle schon sprach, die zu dieser Passivität einlädt. Das Leben in einer maroden Gesellschaft, der Verknappung von Sozialleistungen, der „flexiblen“ Jobs und der konsumierenden Maßen.

Eine Masse, die sich dem ideologischen Diktat von Minderheiten und ihren Partikulär-Interessen unterordnet, die sexuelle Vielfalt mit neurotischen Sprachauswüchsen verwechselt und für die sich die Selbstverwirklichung im Tragen von schriller Unterwäsche und in der Verwendung von Wortsilben zur Geschlechterkennzeichnung erschöpft.

Es ist eine Gesellschaft der Zersplitterung und Zerfaserung, in der das individuelle Glück und die Definition dessen, was das überhaupt ist, sich lediglich auf der persönlichen Ebene abspielen. Das ist potentiell nazistisch.

Es scheint ein Prozess der Selbstgeißelung zu sein, der sich da vollzieht, die „Entkörperung“ von Sprache und Geschlechtlichkeit, eine Art Gesellschaftsneurose der Abspaltung des Seins – vom individuellen Denken zur reinen Definition über die Gruppenzugehörigkeit. Jeder, der keiner Minderheitengruppe zugeordnet ist, ist „out oft he game“, ist konservativ, rassistisch und böse. Doch echte gesellschaftliche Toleranz geht weit über die Grenzen individuellen Seins hinaus. Sie definiert sich auch nicht darüber, ob ich zu meinem Gegenüber „ich, du, er, sie, es“ sage. Denn das sind Äußerlichkeiten, die ohnehin in den Hintergrund treten sollten, wenn das Innere im Gleichgewicht ist.

Willkommen in der Cancel-Culture
Eine Kultur des Kaschierens ist die Folge. Wir kaschieren die Geschichtlichkeit der Sprache, verhängen Embargos gegen historisch gewachsene Begriffe (z. B. „Mohrenkopf“ , „Zigeunerschnitzel“), aber kitten nicht mal ansatzweise die echten Bruchstellen des marode gewordenen Sozialstaates, verharren zum Großteil in dem von der politischen „Elite“ diktierten Tagesgeschehen, fixiert auf uns selbst, ohne nur eine Idee davon zu haben, wie eine bessere Gesellschaft überhaupt aussehen könnte.

Geschlechtsidentität und die Aufweichung von Geschlechtergrenzen werden uns als neue Freiheit vorgegaukelt und wir geben uns damit zufrieden, ohne die echten kollektiven Sollbruchstellen der Gesellschaft überhaupt noch wahrzunehmen: Eintreten für Friedenspolitik, Engagement für sozial-ökonomische Gerechtigkeit, gewerkschaftliche Organisation sowie Aus- und Aufbau einer direkteren Demokratie rücken immer mehr in den Hintergrund in dieser Gesellschaft der Gesättigten, die metaphorisch und wörtlich grenzenlos ist.

Doch wie sollen sich ohne Grenzen überhaupt Profile schärfen, wie eine soziale Identität herangebildet und Pluralität vertreten werden? Wir verlieren uns in der Verwendung des Binnen-I’s, biegen und brechen unseren kulturellen westeuropäischen Wertekanon bis zur Schmerzgrenze, ohne die Folgen zu bedenken. Darin liegt die Crux: im Streben nach möglichst viel Individual- Glück, ohne das kollektive Glück ernst zu nehmen.

Wir verlieren uns im Klein-Klein der Oberflächlichkeit, im Glanze des Regenbogens, dessen Farben blass geworden sind, was nutzt der schönste Regenbogen, wenn man keine Arbeit hat, wenn man letztendlich doch fremdbestimmt wird und es nicht einmal merkt?

Wenn man den als handlungsrelevant verkauften Narrativen nur noch passiv gegenübersteht – scheinbar. Wenn alles ein politischer Einheitsbrei geworden ist, der die Bürger mahnt, drangsaliert und als Steuervieh missbraucht, um eine mit US-imperialistischen Interessen verwobene Außenpolitik zu finanzieren?

Steigende Preise allerorts, Inflation, Corona und Depression: Statt dies als Chance zu begreifen, unser politisches System der Fassadendemokratie zu überwinden und die es repräsentierenden Parteien nun endlich als Verräter am Volke zu begreifen, wenden sich viele angewidert ab. Der Homo Apolitical ist geboren und tröstet sich mit seinem kleinen Individual-Glück des Konsums über die erodierende Gesellschaft hinweg. Völlig devot, völlig selbstzufrieden, völlig teilnahmslos. Erzogen, um zu folgen, hat er sein Schicksal, ein Spielball der politisch-aristokratischen Kaste zu sein, längst akzeptiert. Und daran wird nicht nur er, sondern unsere gesamte westeuropäische Gesellschaftsordnung zugrunde gehen.