Die Raketeneinschläge in Polen

Interessanterweise führen einige Headlines der heutigen Ukraine-Lei(d)artikel die Leser bewusst auf einen investigativen Holzweg. Ist da doch die Rede von zwei russischen Raketen, die im kleinen Dörfchen Przewodów, „janz weit draußen“ auf dem polnischen Land, eingeschlagen sind. Ganz nach dem Motto: Die Russen waren’s.

Die Überschriften stimmen nur insofern, als dass es sich um Raketen russischen Fabrikats handelt, was nicht zwangsläufig auch heißen mag, dass diese von russischen Verbänden abgeschossen wurden. Nun hat sich Mr. Joe Biden relativ schnell zu dem Sachverhalt geäußert, wie gewohnt alles andere als rhetorisch stark zwar, aber immerhin eindeutig. Man gehe nicht von einer russischen Beteiligung aus, heißt es in seiner raschen Verlautbarung. Punkt.

Dafür sprechen m. E. mehrere Hinweise. Erstens besitzt die ukrainische Armee selbst solche Geschosse. Zweitens erstrecken sich die russischen Kampfhandlungen auf den Osten des Landes, weitab vom besagten Dörfchen, das drittens strategisch für Russland keinerlei Bedeutung hat. Stattdessen wäre ein russischer Angriff auf diesem Gebiet eher kontraproduktiv, da er nach Artikel 5 des NATO-Vertrages (eigentlich) den Bündnisfall bedeutete.

Obendrein wäre es in einem ersten Schritt von Wichtigkeit, die genaue Bauart der Raketen zu klären. Denn die Flugabwehrraketen der S300-Familie sind sehr unterschiedlich, gerade auch was ihre Reichweite betrifft. Während ältere Typen, z. B. S-300PT-1 und S-300PT-1A, lediglich Entfernungen von bis zu 75 Kilometern schaffen, ist die neueste Generation (S300 WM) dazu geeignet, ein 2.500 Quadratkilometer großes Gebiet abzudecken.

Wenn es also Russland nicht gewesen ist, wer war es dann? In Frage kommen außer Russland selbst nur Belarus (aber warum?) und eben die Ukraine. Nun ist dies zugegebenermaßen pure Spekulation, aber gerade in Anbetracht der heraufziehenden und von US-amerikanischer Seite (angeblich) nicht mehr ausgeschlossenen Friedensverhandlungen mit Russland kommt dieser „Beschuss“ der Ukraine wohl gerade Kriegsbefürwortern recht.

„Beweist“ er doch die scheinbar permanente Gefahr an der Nato-Ostflanke für Gesamt-Europa und führt das Kriegsdrama auf einen nächsten Höhepunkt zu. Dass Berlin (also Scholz) auf die Spekulationen über einen Bündnisfall zurückhaltend reagiert, ist positiv, aber eine auf dem diplomatischen Parkett naive und tollpatschige Baerbock mag derlei hanseatisches Understatement schon mal beim nächsten TV-Statement zunichtemachen. Man wird sehen. 

Was die Aufklärungsarbeit betrifft: Sollte hier tatsächlich eine ukrainische Beteiligung (wovon ich ausgehe) nachgewiesen werden können, wird die Spur des Urhebers ganz plötzlich genauso im Sande verlaufen, wie dies schon bei den Anschlägen auf die Nordstream-Rohre geschehen ist.

Dann wäre dies nämlich entweder ein peinliches „Versehen“, das zeigte, dass die Ukraine nicht Herr über ihre Waffen ist. Oder schlimmer noch: Es handelt sich um eine plumpe False-Flag-Operation, die mit einem NATO-Einsatz liebäugelt. Gerade dies würde das Regime in Kiew endgültig als Teil der sogenannten  westlichen Wertegemeinschaft disqualifizieren und jeglicher Sympathie berauben. Aber es darf ja nicht sein, was nicht sein darf. Honi soit qui mal y pense.  

Insgesamt spiegelt ein solcher Zwischenfall, wie sehr der Ukraine-Krieg, wie sehr jeder Krieg überhaupt, ein interessengeleitetes Politikum ist. Da werden von ukrainischer Seite immer wieder Forderungen gestellt, die die westliche Zivilisation potentiell an den Rand ihres Untergangs treiben könnten, Stichwort: Flugverbotszone, und die Chance zur „Frontenklärung“ genutzt.
 
Prinzipiell bleibt festzuhalten: Die Ukraine ist „nur“ ein Bauernopfer, das die weltpolitischen Pläne der USA vorantreiben soll. Das erste Etappenziel, den massiven Flüssiggasexport nach Europa voranzutreiben und Europa als Wirtschaftsmacht zu destabilisieren, haben die USA erreicht. Sprich: Sie haben längst den Wirtschaftskrieg gewonnen. Es liegt (nur) an ihnen, dass der Ukraine-Krieg überhaupt noch zugange ist.

Sollte sich Europa nicht von seinem US-amerikanischen Joch befreien und ganz im Sinne Charles de Gaulles ein starkes „Europa der Vaterländer“ mit einer unabhängigen Sicherheitsarchitektur anstreben, ist die Gefahr eines dritten Weltkrieges niemals gebannt.

Sondieren geht übers Regieren

Die Ergebnisse des „Sondierungs-Marathons“ von CDU und SPD machen deutlich: Jene, die sich anschicken, die Bundesrepublik Deutschland in Zukunft zu regieren, sind nicht nur plan-, sondern auch völlig visionslos. Dabei geht es keineswegs um die wahnhaften Visionen, auf die sich Helmut Schmidt bezog, als er einst meinte, der, der Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Vielmehr geht es um ein Konzept, das die gesellschaftlichen Veränderungen ernstnähme – und zwar mit allem, was dazugehört. Digitalisierung, Automatisierung, Klimawandel, Entschärfung der Agenda 2010 und Nato-Austritt: All das wären Eckpfeiler einer solchen Agenda gewesen, wenn da eben nicht jene Engstirnigkeit, Egomanie und Machtversessenheit der Industrie-Sprecher wären, die sich als Politiker bezeichnen.

Statt des großen gesellschaftlichen Ganzen ging es, wie sollte es auch anders sein, wieder mal um ein machtpolitisches Klein-Klein, um ein Weiter-so, nur eben mit einer größeren Mannschaft. Allein die Spielführer haben sich nicht geändert: Während Merkel und Seehofer sich weigern, den Ball abzugeben, begnügt sich die SPD mit ihrer Rolle als Auswechsel-Crew auf der Ersatzbank – inklusive Gejammer und Leidensmiene. Die Sozis führen die Sozialdemokratie damit endgültig in eine neoliberale Abseitsfalle, fernab von sozialer Gerechtigkeit und dem, was die Sozialdemokratie so stark gemacht hat. Daran haben auch die Sondierungsgespräche nichts geändert, denn summa summarum konnte die CDU all ihre Vorhaben durchsetzen, die da lauten: Spitzensteuersatz einfrieren, de facto Obergrenze einführen, Bürgerversicherung verhindern und die Erreichung der Klimaziele bis 2020 aufweichen.

Auch kleinere Augenwischereien – wie die Einführung der Grundrente (von der niemand leben kann), der halbseidene Erhalt des Rentenniveaus bis 2025 und die Abschaffung des Soli – vermögen am neoliberalen Kurs nichts zu ändern und sind die sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein, die schneller verdampfen werden als Martin Schulz „GroKo“ sagen kann.

Neben allem innenpolitischen Geplänkel benötigte es dringend außenpolitischen Weitblick. Denn in einer Welt, in der die Krisenherde täglich mehr befeuert werden und sich Deutschland alleine schon aufgrund seiner geostrategischen Lage im permanenten Spannungsfeld zwischen einer hegemonialen Weltmacht – namentlich den USA – und einem krisengeschüttelten Nahen Osten befindet, würde ein klares Bekenntnis zur Abrüstung und der damit verbundenen Annäherung an Russland Not tun.  Doch auch davon ist auf den 28 Seiten Sondierungs-Gequassel nichts zu finden.

Man wird den Verdacht nicht los, dass es bei dem, was dem „Volk“ als hart erkämpfte Ergebnisse verkauft wird, um Mechanismen der Machtsicherung geht und nichts weiter. Würde ein Arbeitnehmer so arbeiten, sich so viel Zeit lassen und bei seinem Chef schließlich mit so wenig Inhalt dastehen, flatterte ihm wohl unweigerlich eine Abmahnung ins Haus, während die Herren und Damen der zukünftigen Bundesregierung sich noch immer über satte Diätenerhöhungen freuen dürfen.

Was bleibt also, außer einem enttäuschten Blick in die Zukunft? Die Erkenntnis, dass das parlamentarische System, so wie wir es kennen, versagt hat. Solange sich Eliten mit aller Macht und mit den abenteuerlichsten Farbkombinationen Mehrheiten sichern können, solange wird der Wählerwille weder respektiert, noch ernstgenommen werden. Das wird sich auch in den nächsten vier Jahren nicht ändern – leider.

Foto: spiegel.de