Reich an Erfahung – ein frommer Wunsch

Die gestörte Triebstruktur war für Wilhelm Reich die Grundlage der Neurose, die Hinführung zur vollumfänglichen Erlebnisfähigkeit gleichzeitig das einzige Therapieziel zu deren Heilung, im zwischenmenschlichen, aber auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext. In seiner „Massenpsychologie des Faschismus“ (1933) behandelt Reich das Phänomen, indem er zwischen autoritärer Triebunterdrückung und der faschistischen Ideologie einen kausalen Zusammenhang herstellt. In einer patriachalischen Familie als Keimzelle des Staates, so Reich, würden die Charaktere erst geschaffen, die sich trotz Not und Erniedrigung den Herrschenden unterwürfen. Heute lesen diese charakterlosen Charaktere die BLÖD-Zeitung oder klotzen RTL II und bieten den neuen Diktatoren dieser Welt fruchtbaren Boden. Die Persönlichkeitseigenschaften der autoritären Charaktere haben sich indess nicht verändert und treffen immer noch zu – früher auf Hitler und Amin, heute auf Putin und Trump: Sie alle waren und sind geprägt von Destruktivität, Autoritarismus, Rassismus und Ethnozentrismus und kamen und kommen dennoch gut an beim eigenen Volk. Zunächst zumindest. Doch woran liegt das? Schon Erich Fromm stellte in seinem 1941 erschienen Buch „Esacape from Freedom“ die willentliche Flucht des Menschen vor der Freiheit fest. Das innermenschliche Streben nach Konformität tritt anstelle des Pluralismus, nur um das Individuum in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Genau darin liegt der verführerische Mehrgewinn, in der vermeintlichen Sicherheit, die die falschen Führer den Geführten anbieten. Utopische Allmachtfantasien treten anstelle einer Ultima Ratio, Verklärung wird zum dankbar aufgegriffenen Common Sense, der Diktator schließlich zur Erlöser-Figur, zum Retter der Welt, der alle Geschicke zu steuern vermag und alles zum Guten wendet. Welch fataler Irrglaube und gefährlicher Trugschluss. Anders als Reich, sah Fromm nicht die Triebstruktur des Menschen als entscheidenden Faktor für eine solche Tendenz der menschlichen Persönlichkeit zur Unterodnung an, sondern die menschliche Unfähigkeit, mit der Freiheit überhaupt umgehen und darin eigenverantwortlich handeln zu können. Diese Erkenntnis, so schwer sie auch zu ertragen ist, gilt wohl leider auch noch heute. Schauen Sie nur mal in die Gesichter der SUV-fahrenden, überfressenen, Kredit-Haus-Finanzierer auf Donald Trumps Wahlveranstaltungen. God bless America, so hoffe ich dann. Und wenn, dann bitte schnell und bitte gleich.

Trotz des Fromm’schen und Reich’schen Wissensschatzes scheinen Menschen en gros noch längst nicht reich an Erfahrung geworden zu sein. Ergo: Die Zahl der Diktatoren weltweit steigt. Im Osten Putin, Kacynski, Assad und Erdogan, im Westen Le Pen, Wilders und Trump.

Doch nicht nur in den Herrschaftssphären der Despoten, sondern auch in unserem Land lassen wir uns gerne unterdrücken, ducken uns weg und verkriechen uns. Was können und müssen wir tun, um in diesen schwierigen Zeiten nicht in einen regiden Fatalismus zu fallen, der uns die Geschehnisse auf der weltpolitischen Bühne nur als Zuschauer in den hinteren Reihen beonachten lässt? Schwer ist zu ertragen, was da geschieht allemal, denn die Welt ist kompliziert geworden und kein monothematisches Gebilde, wie uns die AfD und ihre Helfers Helfers es uns glauben machen wollen. Doch die Verheißungen der Wohlstandsgesellschaft sind süß, sehr süß. In Zeiten globalisierter Waffendeals, des Flüchlings-Schachs und der Verunsicherung ist es leichter, sich mit dem materiellem Besitz zufrieden zu geben, denn er gibt, ganau so wie der Diktator seinem Volke, Sicherheit, Ruhe und macht träge.

Indem wir allerdings nichts tun und uns unterordnen, verraten wir die Eckpfeiler unserer Gesellschaft selbst. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diese Trias des westeuropäischen Kulturraums verkommt zur hohlen Phrase. Damals, in den späten 1960er Jahren, war das anders. Wo sind sie hin, die mündigen Bürger, die demonstrieren, aufbegehren und sich ganz im Sinne des Philosophen Stéphane Hessel empören? Gründe dafür gäbe es bei Gott genug. Wo seid ihr? Das frage ich mich wirklich.

Leeres Treibgut auf dem Ozean der Sprache

Manchmal kommt es mir schon ein wenig seltsam vor, wenn solche Begriffe wie Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit in unserer postmodernen Gesellschaft immer wieder Verwendung finden. Sie werden meist von jenen in den Mund genommen, die sich selbst für Experten in eben diesen Beziehungen halten.  Wer kann’s ihnen verdenken: Die sogenannten Fachleute haben oft ein jahrelanges Studium auf dem Buckel und können sich en gros mit diversen Veröffentlichungen in namhaften Verlagen wie Suhrkamp, Rohwolt und Co. rühmen. Was ich nicht ganz verstehe – aber vielleicht bin ich damit ja alleine und jeder andere versteht es, außer mir eben – ist, warum solche Begrifflichkeiten gerade heute, in unserer Zeit, von enormer Popularität sind. Sie werden erdacht und finden mit der sprachlichen Verwendung schließlich Eingang in unsere gesellschaftliche Realität, ganz im Sinne von PEIRCE, der mit seiner Sprechakttheorie genau beschrieb, wie aus sprachlichen Äußerungen Handlungen erwachsen:

„Unterscheiden wir zwischen dem Satz [proposition] und der Aussage [assertion] jenes Satzes. Wir gestehen gerne zu, daß der Satz bloß ein Bild mit einem Etikett oder einem Zeiger ist, der ihm beigegeben ist. Aber jenen Satz aussagen, heißt, für ihn die Verantwortung zu übernehmen.“*

Also gut – jetzt muss also schon der alte PEIRCE herhalten, werden Sie denken. Wann fängt er wohl mit WITTGENSTEIN an, der immerhin auch noch sowas ganz und gar Universelles gesagt hat wie „Worte sind Taten.“ Nein, Sie haben mich überzeugt. Ich möchte mich heute nicht zu weit hinaus auf das unruhige Meer der Sprache begeben, das von Urzeiten her eine der interessantesten archäologischen Grabungsstätten und gleichzeitig ein immanentes Zeugnis der menschlichen Entwicklung ist – mal sanft wiegend, mal wild tosend, aber stetig in Veränderung begriffen. Und genau solche linguistischen Schablonen wie die beiden oben genannten sind es, die von Zeit zu Zeit in einer unruhigen Wellenbewegung von der Tiefe des Meeresgrundes hinauf an die Oberfläche der Welt treiben, um sich in einer salzigen Gischt auf einer weißen Schaumkrone, an der Spitze des Wellenkammes, Gehör zu verschaffen.

Nun stehen also da unsere beiden Freunde – die Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit. Glauben Sie mir, ich möchte nicht leugnen, dass es Menschen gibt, die zeitlebens alleine sein wollen, Dickens oder Frisch lesen und sich den lieben langen Tag ihres Lebens freuen.

Aber da geht es doch schon los. In der Etikettierung der Biografie, nicht wahr? Mit ein paar Monaten wird man getauft, mit achtzehn haste ’nen Führerschein und dann – na ja – jeder Topf findet seinen Deckel, Gleich und Gleich gesellt sich gern – Sie wissen, was ich meine: Alles soll noch immer in den ruhigen Hafen der Ehe oder zumindest in eine Form des gesellschaftlich akzeptierten, dyadischen Zusammenlebens münden. Und vielleicht gibt es ja auch einige, die sich damit wohlfühlen. Die eben nicht Dickens lesen wollen, zumindest nicht regelmäßig. Worauf ich hinaus will ist Folgendes: Erst durch die Schaffung solcher Worte wie Beziehungsunfähigkeit und durch deren verwahrloste semantische Hinterhöfe wird manifest, dass die Beziehungsfähigkeit als solche etwas Erstrebenswertes ist.

Und vielleicht liegt ja die hohe Scheidungsrate unserer Generationen darin begründet, dass wir einfach ein gutes Stück egoistischer geworden sind – und zwar weil wir es uns einfach leisten können. Weil es uns eben eigentlich verdammt gut geht und wir die Wahl haben. Das ist doch eigentlich wirklich mal was Neues. Wir haben die Wahl, sind nicht existentiell an unseren Partner gebunden und erwarten daher in einer Beziehung nichts als Glückseligkeit – die natürlich längerfristig immer enttäuscht wird. Ach ja,wer hätte das gedacht…

Wissen Sie, und weil das so ist, verstehe ich nicht, warum uns immer wieder eingeredet wird, dass unsere Generation, die wir uns doch auf einen weitaus freundlicheren Sprachozean als die Kriegsgeneration zuvor begaben, beziehungsunfähig sein soll. Wir sind lediglich wählerischer, liberaler und können es uns das erste Mal in der Menschheitsgeschichte leisten, unser Gegenüber wieder auf das offene Meer hinaustreiben zu lassen, wenn sich die Wogen der Verliebtheit wieder geglättet haben. War es früher der Hafen der Ehe, der eine gewisse Konstanz bot, so ist die einzige Konstanz in heutigen Beziehungen deren permanenter Bezug auf Mehrwert, den beide Partner aus dem asymetrischen Zusammentreffen schöpfen. Das sage ich ganz ohne Häme.

Obendrein beschreibt das angeführte Wortpaar doch letztendlich keinerlei Ursache, sondern lediglich ein Symptom, das es vielleicht noch nicht einmal gibt. Wer weiß das schon. Das Meer der Sprache ist eben unergründlich und tief, so tief. Beziehungsunfähig und bindungsunfähig – diese beiden Archetypen der Bedeutungslosigkeit reihen sich in solch einzigartige sprachliche Untiefen ein wie ADHS, Borderline, Burn-Out, Wirtschaftsbeschleunigungsgesetz, Casting-Show oder Mario Barth – und verdeutlichen, wenn sie überhaupt etwas verdeutlichen, nur eins: die zunehmende Verflachung und die Trivialisierung emotionaler Bedeutungsinhalte zugunsten allgemein verständlicher, leerer Begriffsschablonen, mit denen ein Großteil der Bevölkerung wohl einfach gut umgehen kann.

Sollten Sie also irgendwann auf den tiefblauen Ozean der Sprache hinaussegeln und die leichte Brise auf Ihrer Haut spüren, lassen Sie sich nicht vom goldgelben Sonnenlicht blenden, dessen glitzernde Farbenspiele auf dem wiegenden Gewand der See freudig tanzen. Es wechselt rasch, das Wetter weit draußen – und aus den lächelnden Wolkenstreifen am Horizont werden urplötzlich dunkle Vorboten meterhoher Wellenberge, die sich bedrohlich aufbäumen und vergessene, damönisch grinsende Sprachgebilde vom Meeresgrund emporschleudern …

* Martens, E., Einleitung zu ders. (Hrsg.): Pragmatismus. Ausgewählte Texte von Ch. S. Peirce, W. James, F. C. S. Schiller, J. Dewey, Reclam, Stuttgart 1975.