Zeit für Individualismus, aber bitte im Gleichschritt!

Das Schöne am Kapitalismus ist, dass er uns ein Wohlgefühl verschafft. Zumindest denen, die im kapitalistischen Auenland und nicht auf seiner Schattenseite im dunklen Mordor leben. Sie, damit meine ich die sogenannte Mittelschicht, fühlt sich sicher.

Und Sicherheit braucht jeder Mensch. Auch dann, wenn das, was dem ahnungslosen Durchschnittsbürger da als Sicherheit verkauft wird, in doppelter Hinsicht teuer bezahlt – respektive: erkauft – werden muss. Niemand anderes als der „Mittelschichtler“ selbst ist es nämlich, der sich durch seinen Lohn, der noch oberhalb der „working poor“-Dumping-Subventionen des Arbeits-Prekariats liegt, ein Leben in der wohlig-warmen Filterblase zu leisten vermag – inklusive sorgsam gehacktem Vorgarten, Solarzellen auf dem Dach des Eigenheims und Zweitwagen. Doch leider geht diese Finanzierung individuellen Glücks in den meisten Fällen mit der Entsolidarisierung mit jenen Bevölkerungsgruppen einher, die die „dunkle Seite der Macht“, das Leben von Hartz IV, das Multi-Jobbing und den ermüdenden Alltag in den Arbeitsvermittlungs-Bunkern schon kennenlernen durften. Entsolidarisierung ist den Eliten ein probates Mittel, um die Toleranzschwelle gegenüber dem Leid „der Anderen“ zu erhöhen, aber auch um Feindbilder zu erschaffen. Ganz gleich, ob es nun um „Hartzis“ im eigenen Land oder „die Russen“ etwas weiter östlich geht.

Die Entsolidarisierung ist der elitäre Schlüssel, um machtpolitische Ziele überhaupt erst durchsetzen zu können, die Massen zu steuern und sie zu instrumentalisieren. Als geeignete Multiplikatoren dieser „quasi Entschmenschlichung“ erweisen sich immer wieder die einseitigen Medien, entweder ganz offenkundig wie im Fall der BILD-Zeitung, oder eben latent, aber genauso gefährlich, wie es die Tagesschau vorzieht.

Dabei geht es weit weniger um die Verbreitung der allseits verurteilten harten „Fakenews“ als vielmehr um die Darstellung falscher Kontexte, um süffisante Zwischentöne und die Verwendung einer Sprachklaviatur, die den elitären Kräften dient. Und das neoliberale Framing wirkt. Ob nun in sogenannten Polit-Talkshows Scheindebatten zu Scheinthemen geführt, oder gar bei einer gut choreografierten Kanzlerinnen-Sprechstunde Scheinfragen abgehandelt werden: All dieses pseudo-investigativen Features dienen nur einem Zweck: der Stärkung des kollektiven „Es-ist-gut-so-wie-es-ist“, der Wahrung einer Pseudo-Diskursivität, die in Wahrheit entmündigen will. Ganz nach dem Motto: Vielseitigkeit der Meinungen, ja, aber nur auf dem vorgegebenen Kurs. Dieser wiederum führt mit Volldampf gen Marktradikalisierung, Monopolbildung und Aufrüstung.

Um dieser neuen Oberflächlichkeit noch zusätzlich Schwung zu verleihen, wird eine Gesellschaftsstruktur propagiert, in der das Erleben eines „Events“ zum Höchstmaß an Freiheit verklärt wird: Angefangen beim Pauschalurlaub über das Open-Air-Konzert bis hin zum Stadtfest: Das alte römische Motto „Panem et circenses“ funktioniert auch heute noch, leider. Ja, Spaß muss bekanntlich sein, problematisch nur, wenn eine Generation der „Event-Hopper“ entsteht, deren Lebensziel einzig der Konsum, und zwar auf allen Ebenen, darstellt.

Denn: Was bei all dem höchst uniformen Individualismus des Einzelnen auf der Strecke bleibt, ist das gemeinschaftliche Ganze, oder anders formuliert: das Gemeinwohl. Denn gesellschaftliche Teilhabe, Empathie und das tiefe Empfinden von Menschlichkeit zerfallen in ihre Bestandteile und werden mittels „Erlebenssucht“ und Sehnsucht nach Materialität kompensiert. Deutlicher formuliert: Der Halt des Menschen an sich selbst geht verloren, er wird im wahrsten Sinne des Wortes zu haltlosem Humankapital degradiert, das man nach Belieben einsetzen oder gar „verheizen“ kann. Und das ist gewollt. Exemplarisch zeigt das der sogenannte „Beruf“ Soldat auf. Ganz egal, wer sich für den Schritt hin zum staatlich subventionierten Söldner entscheidet: Er gibt den Glauben an Menschlichkeit und Moral in dem Moment auf, wenn er den Kasernenhof betritt.

Früh schon sollen identitätsstiftende Mechanismen aufgebrochen werden. Nehmen wir die Sozialisationsinstanz Schule als Beispiel, so verfolgt diese keineswegs die Idee einer umfassenden Heranbildung des Kindes zu einem autonomen Erwachsenen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Gewollt sind gesellschaftskonforme Ja-Sager, die sich im kapitalistischen Produktionsprozess ausbeuten und verwerten lassen, oder eben zu neurotischen Karriere-Egomanen werden, ohne Rücksicksicht auf Verluste. Statt das Humboldt’sche Bildungsideal zu fördern, wird die Kindheit sukzessive verkürzt, kompetitive Dynamiken befeuert, und alles, was jenseits des verwertbaren Wissens wichtig wäre, bleibt im eigentlichen Sinne „ungelernt“. Bildung verkommt somit immer mehr zur Ausbildung, was schon ein kurzer Blick in die deutschen Universitäten beweist. Man vergleiche nur die kärgliche Ausstattung und das marode Ambiente mancher geisteswissenschaftlicher Fakultäten mit dem Erscheinungsbild der „Applied Science“, gesponsert nicht selten von Pharma- und Technologiekonzernen.

So entsteht letztlich das Gegenteil von dem, was Adorno einst das mündige Subjekt nannte. Vielmehr sind es die schweigsamen Lohn-Soldaten, die entweder auf den Billig-Lohn-Galeeren oder eben als Kapital-Vermehrer der Privatwirtschaft ihren Dienst verrichten, ohne nach links oder rechts zu schauen. Echte Individualität sieht anders aus …

Gesellschaftstheoretische Überlegungen zur neuen Linken und zur Friedensbewegung im Kontext einer medialen Emanzipation

Ausgangslage
Das Problem der neuen Linken, damit meine ich die linkstheoretische sowie linkspraktische Konzeption und Programmatik der letzten Jahre, wurzelt keineswegs in mangelnden Inhalten. Vielmehr werden diese ja hervorragend aufgearbeitet, teilweise durch unabhängige Kommunikations-Plattformen, teilweise durch engagierte  Wissenschaftler, wie Chomsky, Ganser et. al. Dabei bietet gerade das Internet als Mittel der Multiplikation sowie Distribution enorme Chancen, wenngleich auch Risiken. Chancen bestehen a priori in einem freien Meinungsaustausch, gleichwohl auch in einem emanzipatorischen Prozess der Meinungsbildung, durch den eine breite Masse, jedenfalls breiter als in den vorherigen Dekaden, die Möglichkeit erhält, sich von der Repräsentanz der Mainstream-Medien zu distanzieren.

In dieser Emanzipation sehe ich enorme positive Aspekte, indem sie nämlich, ganz im Sinne Adornos Erziehung zur Mündigkeit, die Rezipienten zur Meinungsbildung in einer relativ autonomen Weise befähigt. Durch mediale Emanzipation können potentiell Prozesse des Verstehens in Gang gesetzt werden, die sich in einem „Bewusstsein von“ manifestieren und so schließlich in eine subjektiven Erkenntnis münden, die ohne diese medialen Repräsentanzen nur schwer oder kaum möglich gewesen wäre.

Nun sind gleichzeitig mit diesem Erkenntnisprozess auch Risiken verknüpft, da nämlich, nach der medialen Bewusstbarmachung folgende Ausgangssituation entsteht:

  1. Generell gilt es die Quellenlage des Sachverhalts, auf den sich der Repräsentant bezieht, zu hinterfragen bzw. zu überprüfen. Da dies aber nur unzureichend geschieht, ist generell die Gefahr der Fehlinformation gegeben.
  2. Da die Medien, die der Empfänger konsumiert, immer auch einen Teil seiner Lebenswirklichkeit spiegeln, wird er nach einer Erfahrung, die sein Weltbild positiv bestätigt, diese Erfahrungen verstärken und wiederholen wollen, ganz nach dem Motto: mehr Desselben.
  3. Digitale Plattformen, wie Facebook, werden den Effekt „mehr Desselben“ alleine dadurch verstärken, indem ihre Algorithmen dem Empfänger eine Vielzahl ähnlicher Inhalte vorschlagen („Echokammer“).

Die von mir aufgezeigten Punkte gelten freilich für alle Medieninhalte, denn die Grenzen zwischen autarker Berichterstattung, soweit diese überhaupt noch möglich ist, zur meinungsbildenden Propaganda sind fließend. Dies hat ganz einfach immer mit dem zu tun, was Schulze von Thun die Selbstoffenbarungs-Ebene nannte: Der mediale Gestalter ist immer nur so objektiv, wie seine innere Welt es ihm selber gestattet und es vor allem auch seine Sprachwelt zulässt. Denn schon Wittgenstein verwies darauf, dass die Grenzen der Sprache immer auch die Grenzen der menschlich wahrnehmbaren Welt sind.

Man mag also zurecht die Frage stellen, inwieweit Objektivität in dem Moment, wenn das Wechselspiel sich zwischen Inhaltgeber (Journalist, Wissenschaftler) und Inhaltnehmer (Rezipient) vollzieht, überhaupt noch möglich ist. Denn nicht nur der Inhaltgeber ist gefangen in seinem individuellen Setting aus Deutungsmustern, sondern so auch der Inhaltnehmer. Wenn dem aber so ist, so wird deutlich, dass Prozesse des Verstehens, so wie sie der große Hans-Georg Gadamer konzipierte, sich nur durch sich selbst heraus entwickeln können. Nur durch ein „Bewusstsein von etwas“ kann ich ein „Verständnis von etwas“ erlangen, das Verstehen ist somit die Basisvariable für die Erkenntnis, deren Eigenschaft ihre Emergenz ist, indem nämlich erst durch diesen innerpsychischen  Grundstock Neues überhaupt entstehen kann.

Insofern bieten zuverlässige mediale Inhalte immer nur einen Rahmen zur Bewusstbarmachung, ihre Existenz allein setzt aber noch keinen Erkenntnisprozess in Gang.

Prozess, statt Propaganda
Nun bleibt die Frage offen, wie wir die neue Linke (besser: die Friedensbewegung), die sich möglichst objektiven Medien bedienen sollte, auf neue programmatische Füße stellen. Um dies letztlich zu tun, ist, genau wie ich es weiter oben mit dem dyadischen Prozess zwischen Inhaltgeber und Inhaltnehmer aufgezeigt habe, eine inhaltliche, aber auch eine sprachliche Emanzipation von Nöten.

Dabei geht es nicht darum, die „linke Denke“ in einem schwammigen Sammelbecken für jene aufzulösen, die grundsätzlich gegen das System und seine Repräsentanten sind. Nein: Es geht um eine begriffliche Neudefinition und zwar jenseits von Ideologiengläubigkeit und Dogmatismus. Um die linke Denke zu etablieren, müssen jene, die von ihren Ideen überzeugt sind, in sich gehen und jene Aspekte, die nützlich, verwertbar, aber auch für den Mainstream verstehbar sind, selektieren, anpassen und neu präsentieren.

Durch die Begreifbarmachung, die sprichwörtlich in der begrifflichen Neukonzeption der linken Sache aufgeht, lassen sich jenseits von esoterischen Ideenmodellen langfristige Modi Operandi entwickeln, die die breite Masse der Bevölkerung befürwortet. Worum es mir geht, ist die Verabschiedung von jenem selbstverliebten Hedonismus, wie er gerade in links-liberalen Kreise gerne auftrat und noch immer auftritt. Am Beispiel des Klassenkampfes festgemacht, heißt das, dass ich vor der breiten Bevölkerung nicht jenen alten Begriff bemühen muss, um gesellschaftliche Ungleichheit aufzuzeigen. Vielmehr geht es um die Initiierung eines Prozesses, eine  Bewusstbarmachung von Ungerechtigkeit, die jeden einzelnen von uns angeht.

Dabei darf die Kritik am System und am Status Quo sich aber nicht in sich selber erschöpfen, sondern muss schöpferische, konkrete Wege aufzeigen, wie aus Problemlagen potentielle Lösungswege erwachsen können. Nicht selten liegt in der permanenten Negation, die sich bei vielen linksdenkenden Menschen in einer Art Wut-Depression entlädt, jene Abschreckung der „Anderen“, die potentiell für unsere Ideen offen wären. Systemisch gesehen, zieht die Partei DIE LINKE beispielsweise ihre gesamte Energie aus einer immanenten Systemkritik heraus und man kann sich schon fragen, inwieweit sie mit dieser Systemkritik längst zum Teil desselben geworden ist.

Es bleibt generell fraglich, ob sich die Idee von einer gerechten Gesellschaft überhaupt in einer repräsentativen Demokratie verwirklichen lässt. Doch wenn wir es damit ernst meinen, so müssen wir für sie kämpfen und zwar im bildungstheoretischen Sinn, der in der Praxis schließlich zu einer Mündigkeit jedes einzelnen Menschen führt. Dieser Prozess kostet auf beiden Seiten Zeit und Kraft. Konkret können die Bedingungen für diesen Erkenntnisprozess mittels eines Angebots

  1. an alternativen Medien verwirklicht werden, das die Lehrpläne offener gestaltet
  2. das die Kritik der Schülerinnen und Schülern fördert und gezielt entwickelt
  3. dessen Ziel einzig und allein der mündige Mensch ist, statt eines verwertbaren Subjekts


Das kritische Individuum als Schlüssel für ein kritisches Bewusstsein
Aus meinen Ausführungen wird deutlich, wie wichtig ein kritisches Bewusstsein des Individuums ist. Noch jedoch vollzieht sich gerade im schulischen Kontext ein Prozess der unkomplizierten Anpassung an den Status Quo und das, damit das Individuum sich schnellst- und bestmöglich in die Gesellschaft eingliedere. Abstrahiert man dies, so gelangt man schnell zu der Einsicht, dass es sich bei einem Großteil dessen, was wir Bildung nennen, eigentlich nur um die Festigung eines bestehenden Herrschaftsanspruches handelt. Damit das kritische Bewusstsein im Kinde überhaupt erst angelegt wird, geht es um eine gezielte Förderung innerhalb der Sozialisationsinstanzen, die nur durch ein emanzipiertes Lehramt-Studium letztlich erreicht werden kann.

Erst im Zusammenspiel zwischen den Sozialisationsinstanzen, der Familie und den entsprechenden funktionalen Gruppen (Arbeitskollegen etc.) wird in einem langfristigen Prozess der Adjustierung und Readjustierung Erkenntnis, im Sinne zumindest partieller Objektivität, erzeugt.

Medienkompetenz als Werkzeug des kritischen Individuums
Medienkompetenz meint das bewusste selbstständige Auswählen von medialen Inhalten, die sich nachweisbar auf seriöse Quellen berufen und deren Sinnhaftigkeit jenseits von interessengesteuerter Meinungsmache liegt. Medienkompetenz setzt immer den Glaube an ein mündiges, kritisches Individuum voraus und muss somit Ziel und zugleich Bedingung pädagogischer, im weitesten Sinne erzieherischer Intervention sein, da sie dem Menschen einen Referenzrahmen an die Hand gibt, mit dessen Hilfe er selbst propagandistische Praktiken entlarven kann und sich eigenständig gegen diese zu schützen vermag.

Insofern kann man die allgemeine Abneigung gegenüber der linken Idee, die sich für eine Aufweichung bestehender Machtstrukturen zugunsten eines gerechten Verteilungsschlüssels einsetzt, dem Funktionieren der propagandistischen Praxis der Systemmedien zuschreiben, die diese bewahren und schützen wollen. Dies ist nicht neu. Um dem Individuum den Selbstschutz der Medienkompetenz, denn um nichts anderes geht es, zu vermitteln, bedürfte es, wie oben in Ansätzen beschrieben, einer Reform des Bildungssektors, gleichwohl aber auch einer Reform der Medienlandschaft, die Nachrichtenschnipsel in systematische Gesamtzusammenhänge stellen müsste, erklärt und Stellung bezieht. Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, das sich wertneutraler Journalismus darin manifestiert, wichtige Informationen, was nun beispielsweise die Einnahme dieser oder jener Stadt, die Unruhen in diesem und jenem Staat angeht, einfach wegzulassen.  Denn auch durch das Weglassen von Informationen konstatiert sich Meinung und zwar im übelsten Sinne.

Medienkompetenz, so wie ich sie verstehe, ist insofern der Schlüssel, um eine gerechtere Gesellschaft überhaupt erst zu ermöglichen. Mit der Medienkompetenz soll und muss eine neue Beschäftigung mit der Sprache einhergehen, eine Enttäuschung der Begriffe im wahrsten Sinne des Wortes, die leere Begriffsschablonen, wie Freihandelsabkommen, Neoliberalismus, Arbeitsagenturen, Friedensmissionen und sofort, systematisch ihrem Gehalt nach untersucht und, wenn nötig, als semantische Lügengebäude entlarvt.

Die Allgegenwart der Medien in ihren unterschiedlichsten Formen macht ein neues Gesellschaftskonzept für sie unumgänglich. Dazu zählt ein speziell geschultes Lehrpersonal, das wirklich state of the art ist, aber auch Eltern, die wissen, wie sie sich mit den immer komplexeren Anforderungen der digitalen Welt auseinandersetzen und ihnen im Erziehungsprozess begegnen müssen.

Dies ist gerade auch der Tatsache geschuldet, dass die Beeinflussung junger Menschen, deren Identität langsam heranreift, noch nie einfacher war wie heute. So ist die Vermittlung von Medienkompetenz letztlich ein probates Mittel, um gesellschaftliche Strukturen zu erkennen und überhaupt erst zu verändern.

Foto: Faellanden.ch