Was Herr Grass mit seiner letzten Tinte so runter schreibt, hat wenig mit einer poetisch anspruchsvollen, mit Jamben oder gar Trochäen gespickten Friedens-Ode zu tun. Es ist vielmehr die Bestandsaufnahme einer prekären politischen Gesamtsituation des Nahen Ostens. Das israelische Atomprogramm erfuhr in den 1950er Jahren die Unterstützung unserer französischen Nachbarn und besteht seit seinen Anfängen aus sehr vielen Unbekannten: Über die Menge der atomaren Sprengköpfe – und damit über die atomare Schlagkraft der Israelis – ist recht wenig bekannt. Als sicher gilt: Israel verfügt seit 1967 über die Atombombe und hat diese 1975 auch Südafrika zum Kauf angeboten.
Laut der Federation of American Scientists besitzt Israel rund 200 bis 250 Atomsprengköpfe für Mittelstreckenraketen und verfügt damit über ein enormes apokalyptisches Potential. Alleine das verdient schon Beachtung und unsere vollste Aufmerksamkeit, auch weil Israel bis heute nicht den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat. Nun sind der (vermeintlich) stetig an einer Atombombe werkelnde Iran und das an einem atomaren Erstschlag interessierte Israel im wahrsten Sinne des Wortes eine explosive Mischung. Wenn sich jetzt Herr Grass zu Wort meldet und dies so große Wellen schlägt, so ist das m. E. insofern von Bedeutung, als dass es uns zeigt, wie wenig die große Politik bis dato an einem gefährlichen Status Quo, an einem schwelenden atomaren Kabelbrand, an einem labilen Gleichgewicht ändern konnte und wollte.
Grass führt seine Feder und erhebt sie mahnend, erinnernd – und ja: Auch wenn man ihm, der sich im 2. Weltkrieg versündigte, eine gewisse Doppelmoral zu und seine (Alters-)Weisheit absprach – so schafft sein niedergeschriebener Monolog eines: Kultur selbst. Kultur in ihrer Urform, denn in einem künstlerischen Freiraum darf gedacht werden, was auf diplomatischem, rutschigem Parkett unsagbar – und vor allem unschreibbar – wäre. Grass selbst mag somit streitbar bleiben, sein Gedicht gar eine mehr schlechte als rechte Provokation sein, doch der vom medialen Hype durchsetzte, oberflächliche Zeitgeist greift diese doch dankbar auf. Und genau darin erkenne ich einen nutzbaren Effekt: In unserem willfährigen Zeitalter, indem die Polarisierung scheinbar nur noch schlechten Laien-Darstellern im Nachtmittags-Programm obliegt, wird es Zeit, Haltung zu beziehen, die schwülstigen Wohlstandsbäuche abzustreifen und die Playstation zur Seite zu legen. Auch wenn wir gerne daran glauben wollen: Das Leben ist nun mal kein Ponyhof und wenn Deutschland ein sechstes U-Boot nach Israel liefert, ist eben das (!) der eigentliche Skandal und demonstriert ein weiteres Mal die scheinheilige Verzahnung von Politik und Wirtschaft, die den Cashflow anbeetet und vor das Wohl der Menschheit stellt.
Ja es ist unglaublich, dass schon die rot-grünen Exportrichtlinien solche Waffen-Deals billigten, dass Deutschland von Haus aus die stählernen U-Boot-Kolosse mit zwei unterschiedlich großen Torpedo-Rohren ausstattet (sechs Rohre mit dem Standard-Durchmesser von 533 Millimetern und vier mit einem Durchmesser von 650 Millimetern, aus denen man dann auch atomare Marschflugkörper (Reichweite rund 1500 km) abfeuern könnte), dass Herr de Mezière sich dabei noch strahlend die Hände reibt und wir, ja wir alle, nichts dagegen tun und das zur besten Sendezeit ertragen, weil wir so schrecklich abgestumpft, so übersättigt, so gleichgültig wurden in unseren Kathedralen des Wohlstands, mit ordentlichem Vorgarten und Family-Van in der Garage.
Wenn der von Trägheit zerfressene Durchschnitts-Deutsche eben erst ein sogenanntes Gedicht benötigt, um sich so endlich einem drohenden atomaren Flächenbrand bewusst zu werden: Meinetwegen. Auf dass es nicht in den Tiefen der Feuilletons oder in den Höhen der Deutungs-Horizonte versauere und sich aus den Zeilen des alten Mannes auch ein paar konkrete Ideen für eine politisch konstruktive Auseinandersetzung ableiten lassen, bevor wir alle die Trompeten von Jericho hören (Jericho nennen sich übrigens auch die israelischen Boden-Boden-Raketen, die ihre atomare Fracht bis zu 7000 km vom Nahen Osten ins ferne Irgendwo tragen können).
Und weil gerade Ostern ist – ein kleines Bibel-Zitat zum Abschluss:
„Laß alle Kriegsmänner rings um die Stadt her gehen einmal, und tue sechs Tage also. Und laß sieben Priester sieben Posaunen des Halljahrs tragen vor der Lade her, und am siebenten Tage geht siebenmal um die Stadt, und laß die Priester die Posaunen blasen. (3. Mose 25.9) Und wenn man das Halljahrshorn bläst und es lange tönt, daß ihr die Posaune hört, so soll das ganze Volk ein großes Feldgeschrei machen, so werden der Stadt Mauern umfallen, und das Volk soll hineinsteigen, ein jeglicher stracks vor sich. “
Josua, Kapitel 6