Die Neurose als systemstabilisierender Mechanismus im Sinne des Autopoiesis-Begriffs sensu MATURANA

Manchmal ist es schon sehr verwunderlich, in welchem Hamsterrad wir uns bewegen: In dem immer gleichen Wechselspiel von Arbeit und Haushalt bleibt uns eigentlich kaum noch die Zeit, Luft zu holen und wirklich mal zu entspannen. Oder wann haben Sie das letzte Mal mal in aller Ruhe ein Buch gelesen? Bei mir ist das schon etwas länger her, das kann Ihnen versichern. Ich frage mich dann manchmal, ob es an meiner Art der Selbstorganisation (interessanter Begriff der Systemtheorie, die um 1950 von BERTALANFFY entwickelt wurde) liegt, oder ob wir den Umstand, dass so wenig Zeit für dies und das vorhanden ist, einfach ganz allgemein auf die (post-)moderne Zeit schieben sollen… Ich meine: Solch eine Schuldzuweisung ist nun mal schnell ausgesprochen… Aber dennoch wäre das m. E. eine sehr starke Generalisierung. Sicher sind wir in einen Trott eingebunden, aus dem wir, wenn die entsprechenden Ausgleichmechanismen nicht vorhanden sind, subjektiv nicht herauskommen. Aber das war doch auch in anderen Zeiten so. Ich meine: Denken Sie nur einmal zurück an die Industrialisierung, als der stickige Qualm der Schornsteine den Himmel über den Städten verdunkelte und die Menschen zwischen zehn und zwölf Stunden schufteten und sich abmühten. Auch sie waren dem Diktat der Arbeit unterworfen und noch stärker essentiell an sie gebunden, an das Wohlwollen des Fabrikbesitzers. Aber was sich seit diesen Zeiten wohl geändert hat, um ganz bei der Systemtheorie zu bleiben, ist die ständig gestiegene Komplexität des Systems Gesellschaft und seiner Attraktoren – quantitativ und qualitativ.

Betrachten wir Menschen uns auf der Individual-Ebene als ständig um Ausgleich bemühte Teile des Systems, die ganz im Sinne des Autopoiesis-Konzepts (MATURANA, 1972) immer darin bestrebt sind, das System als solches und damit den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu erhalten, werden gleichwohl die Zwänge offensichtlich, die mit einer solchen Ausgleichbewegung einhergehen. Mit ihr tritt nämlich ein signifikantes Charakteristikum eines Systems zutage: Dessen Emergenz (HOLLAND et. al., 1990), also die Entstehung von neuen systemischen Teilelementen aus sich selbst heraus, ohne dass sich die Existenz der neuen Elemente auf die bereits vorhandenen Teilelemente im einzelnen stützen ließe. Nicht ohne Grund wird in der Philosophie des Geistes das Konzept der Emergenz auch zur Erklärung für die Entstehung von Bewußtsein angewandt, zumindest von einigen Philosophen. Wenn wir nun die Genese des Bewußtseins also als emergenten Prozess verstehen, und dessen Resultat als quasi generiertes Filtrat des Systems begreifen, wird ersichtlich, wie sehr menschliches Bewußtsein im gesellschaftlichem Kontext verwoben ist.

Nun ist in unserer Zeit die Zahl der Attraktoren innerhalb des Systems in der Form gestiegen, als dass wir durch eine hoch spezialisierte Infra- und Kommunikationsstruktur sowie im Allgemeinen einen höheren Lebensstandard usw. erst ein Bewußtsein davon entwickeln, was unsere Möglichkeiten sind. Durch einen permanenten Prozess der Rückkopplung werden wir dabei ständig adjustiert und readjustiert und wirken ebenso auf andere Elemte des Systems. Das gesamtgesellschaftliche Bewußtsein, mit dem wir z. B. mittels Werbung und Medien konfrontiert werden, vermittelt uns schließlich einen idealtypischen Eindruck davon, welche scheinbar erstrebenswerten Ziele (z. B. Sachwerte) es zu erreichen gilt, während uns unsere Sozialisatoren einen eben solchen normativen Grundrahmen in der Kindheit gezeichnet haben. Sind die in diesen beiden Prozessen generierten unerreichbaren normativen Gebote für das Individuum irritierend, können Momente entstehen, in denen die persönliche Selbstorganisation nur unzureichend erfolgen kann und das Individuum das Systemgleichgewicht gefährdet sieht. Doch ist das Bestreben des Subjekts hin zum Gleichgewicht noch immer so stark, dass die Herstellung eben dieses Gleichgewichts durch internalisierte Normen und Werte als oberste Prämisse definiert wird. Die Internalisierung und die durch weitere Attraktoren auf das Subjekt einströmende gesellschaftliche Informationsflut geht mit einer wachsenden Zahl von Obligationen einher, das Gefühl der Überforderung entsteht.

So denke ich doch, dass die Verwendung des Autopoiesis-Konzepts schließlich auch für die Erklärung neurotischer Bewältigungsstrategien herangezogen werden kann, nämlich dann, wenn wir die Neurose als nicht rational-zweckgebundene Handlung begreifen, die aus dem System Mensch heraus als pathologische Bewußtseinsform entsteht, und ihrer Natur nach doch zutiefst der Erhaltung des gesellschaftlichen Systems dient. Die Neurose führt eine partielle, aber temporär bruchstückhafte Homöostase herbei. Bruchstückhaft deshalb, weil die Stabilisierung des Systems zwar erfolgt, jedoch das Individuum sich über die fehlgeleitete Ausgleichbewegung seines Bewusstseins stets gewahr wird und aus diesem Erkenntnisprozess heraus in seinem Empfinden Prozesse des Erleidens entstehen, die sich in neuen emergenten Formen des Bewusstseins manifestieren.

Autor: Andreas Altmeyer

Autor, Friedensaktivist

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