Generation Z: Wo ist die Solidarität, wo ist sie geblieben?

Immer wieder stelle ich mir die Frage, wo sie hin ist, die Emanzipation. Wo ist sie, die Wut der 68er, die sich motivieren ließ vom Hass auf den „Muff unter den Talaren“ und schließlich auf den Straßen entlud? Dutschke und Ohnesorg, aber auch die Demonstranten zeigten eines: Solidarität für Minderheiten. Solidarität mit der Bevölkerung Irans, die unter der Knute des von den USA installierten Schahs Mohammad Reza Palavi litt und Solidarität mit der Bevölkerung Vietnams, die Opfer eines von den USA betriebenen Angriffskrieges unter Johnson wurde.

Die weltpolitische Gemengelage war es wohl, die die Studentenschaft mitten ins Mark traf. Verstärkt durch die ultra-konservative Haltung einer zutiefst repressiven Bundesregierung, wurden ihre Wut und Empörung zunächst in Graswurzel-Bewegungen wie die der Außerparlamentarischen Opposition kanalisiert. Ein emanzipatorisches Potential erwuchs m. E. auch aus der real existierenden Kontroverse zwischen der Nazi-Vergangenheit hochrangiger deutscher Regierungsfunktionäre auf der einen, und den Ideen der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, also der sogenannten Frankfurter Schule, auf der anderen Seite. Deren Kernaussagen standen nämlich im offenen Gegensatz zum starren Politik-Verständnis des Establishments, da sie von der Fähigkeit des Subjekts zur Autonomie ausging sowie von einem grundsätzlich dialektischen Gesellschaftsbild, das bestimmt ist vom Spannungsfeld zwischen phylogenetischer und ontologischer Entwicklung.

Ja, ich kann mir vorstellen, wie einst der Hype um Adorno gewesen sein muss, obgleich Adorno selbst – bei aller Kritik am Bestehenden – charakterisiert war vom Misstrauen gegenüber allem Neuen. Sinnbildlich wird das wohl in seiner Aversion gegen die Unterhaltungsmusik aufgezeigt, für die er, der große Musiktheoretiker, nicht mal einen Augenaufschlag übrig hatte.

Doch worauf ich hinaus will, ist dies: Wo ist all die Emanzipation, all der Wille zum zivilen Ungehorsam, all die Wut hin, die sich damals entlud? Wo sind sie hin, die Kritikfähigkeit und der von Kant formulierte kategorische Imperativ, also jene Kategorien, die uns bescheinigen, dass wir tendenziell über den gesellschaftlichen Tellerrand schauen können, wenn wir es denn wollen? Sie, so scheint es mir, sind zu leeren Begriffshülsen verkommen, was wohl in einer Aushöhlung bildungstheoretischer Konstrukte, und damit mit der Reduzierung des durch sie vermittelten Wissens begründet liegt.

Denn obwohl die politische Gemengelage eben so explosiv ist wie damals, wenn nicht noch explosiver, so verpufft in Deutschland jegliche Form der Solidarisierung in den unendlichen Weiten des WorldWideWeb. Echter, tragfähiger Widerstand ist das längst nicht. Denn digital ist nicht real life.

Der uns innewohnende Wille zum unendlichen Gehorsam liegt, so denke ich, mitbegründet in der Aufweichung des Erziehunsbegriffs, der seit der Generation Y, also jener Generation, die keinen Krieg erleben musste, befüllt wurde mit neoliberalen Werten wie Entpolitisierung, materieller Überversorgung und Overprotection.

Im Kern geht dieser kapitalistische Erziehungsprozess davon aus, dass Kinder für den Markt sozialisiert werden müssen, statt ihnen das Rüstzeug an die Hand zu geben, das sie zur Mündigkeit befähigen würde. Damit meine ich, dass jenem verwertbaren, für den kapitalistischen Produktionsprozess wichtigen Wissen, mehr Bedeutung zugestanden wird als der Idee einer umfassenden Bildung und ihn reduziert auf seine für die kapitalistische Gesellschaft verwertbaren, das heißt: auf seine rein Profit maximierenden Handlungen.

Durch den Sozialisationsprozess selbst, durch das systematische Vermitteln eines Konzepts, das von der Notwendigkeit der Unterordnung in eine kapitalistische Gesellschaftsstruktur ausgeht, deren Muster und Handlungsmotivation von Konformismus und Konsum bestimmt werden, gelangt das Subjekt schließlich zu einer Schein-Emanzipation, die in Wahrheit stiller Gehorsam ist. Stiller Gehorsam wiederum meint das Aufbrechen jeglicher Solidarisierungsbestrebungen – und zwar auf individual- und makrotheoretischer Ebene, was Marx wohl die Zerstörung des Klassenbewusstseins nennen würde. Sie schafft unterwürfige Individuen, die dem Tagwerk frönen, ohne den Blick nach rechts oder links zu richten.

Die Gleichung lautet: Solange wir wie Uhrwerke funktionieren, können wir die kleinen Vorteile des Systems genießen. Und da wir das können, da wir zumindest im westeuropäischen Kulturraum (noch) in einer Echokammer leben, kommt Wut und Empörung – wie einst von Stéphane Hessel gefordert – überhaupt gar nicht mehr auf.

Doch Bewegungen wie die Gelbwesten zeigen, dass es auch anders gehen kann. Nein freilich: Das ist nicht einfach, das kostet Zeit und viele Nerven. Aber es tut dennoch Not!

Denn wenn wir den Erziehungsprozess weiter dazu missbrauchen, Kinder zu konformistischen „Ja-Sagern“ und zu nicht reflektierenden Konsum-Zombies zu erziehen, hat das Folgen. Zugegeben: Es wird vieles dafür getan, dass wir und unsere Kinder unmündig bleiben – vom gleichgeschalteten Medien-Setting über Eltern, die lieber verwöhnen und dauer-loben, als den Kindern auch mal die eigenen Grenzen aufzuzeigen. Doch all das kann uns von unserer Verantwortung nicht freisprechen.

Leider ziehen die, die es sich leisten können, ihre Kinder heute in einem materiell-übersättigten Embryo mit Playstation und Markenklamotten auf, und lassen den lieben Kleinen alle Vorzüge der kapitalistischen Gesellschaft angedeihen, ohne darauf zu achten, was eine solche Sozialisation (auch mit der eigenen Kritikfähigkeit) überhaupt anrichtet. Denn sie hat einen hohen Preis: die Aufgabe der Mündigkeit.

Wo ist sie also hin, die Emanzipation? Sie wurde ausgehöhlt, zugunsten einer institutionell legitimierten Trockenlegung des Bildungssektors, der immer mehr zu einem Ausbildungssektor verkommt, sie wurde „vergessen gemacht“, zugunsten einer Kultur der Event- und Erlebnis-Hopper, die zwar lebenshungrig, aber lebensfremd sind, die auf der einen Seite Emotionen mit Emojis ausdrücken, aber für die Benachteiligten dieser Welt keine mehr übrig haben, weil sie so gerne konsumieren. Generation Z eben.

Ach, es ist sehr traurig das alles.

Anmerkung:

Der Bildungsbegriff, so wie er hier dargestellt ist, ist nie denkbar ohne eine gesellschaftliche Komponente, und zwar in der Form, dass Halbbildung stets als Mittel zur Legitimation des Bildungsmonopols und damit zum Erhalt des Status Quo eingesetzt wird. Ganz im Adorno’schen Sinne:

„Was aus Bildung wurde und nun als eine Art negativen objektiven Geistes, keineswegs bloß in Deutschland, sich sedimentiert, wäre selber aus gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen, ja aus dem Begriff von Bildung abzuleiten. Sie ist zur sozialisierten Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes. Nach Genesis und Sinn geht sie nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie.“*

*Theodor W.Adorno: Theorie der Halbbildung (1959). In: Gesammelte Schriften, Band 8: Soziologische Schriften 1 Suhrkamp, Frankfurt/M. 1972, S. 93–121.