Ein Flüchtlingsmädchen, dem die Abschiebung gemeinsam mit seiner Familie unmittelbar bevorsteht, fängt vor laufender Kamera an, zu weinen. Welch PR-technisches Desaster für die Bundeskanzlerin, die sich wohl eher auf eine entspannte Small-Talk-Runde eingestellt haben dürfte, einen Tag vor ihrem Geburtstag. „Ich hatte Pläne, wollte in Deutschland studieren“, schluchzt die Jugndliche in die Kamera. Und ich muss schon sagen: Das alles hatte einen gewissen Gänsehautfaktor. Merkels Reaktion -„Ich kann Dich verstehen, aber…“ – war zugegebenermaßen linkisch und erinnerte mich persönlich eher an eine der standartisierten Antworten, die man von den Mitarbeitern der unzähigen Service-Hotlines kennt. Obendrein habe ich Frau Bundeskanzlerin herself noch niemals jemanden duzen hören. Aber irgendwann ist ja bekanntlich immer das erste Mal. So auch Merkels Streichel-Attacke im Nachgang, für die sie jetzt in sämtlichen Medien dieses Landes nur Häme erntet. Zu Unrecht wie ich finde. Was hätte sie tun sollen? War dies nicht von Anfang an eine Loose-Loose-Situation für Merkel? Auch wenn sie diese eine Abschiebung storniert und eine Ausnahme gemacht hätte? Ja, dann wäre der Content produziert worden, den die soziale Netzgemeinde so liebt, tausendfach geliked und geteilt. Ich sehe die Bildchen mit „Kanzlerin der Herzen“ schon vor mir. Aber …
Frau Merkel ist die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und hat klare Leitlinienkompetenzen. Ganz unabhängig davon wie wir zum Thema Flüchtlingspolitik stehen – und nein, auch ich gehe in dieser Sache mit der Bundesregierung nicht konform – können und dürfen wir es uns nicht leisten, Politik von emotionalen Entscheidungen abhängig zu machen, die zwar medienwiksam, aber ihrer Natur nach inkonsequent sind. Wohin das nämlich führen kann, haben uns diverse amerikanische Präsidenten schon gezeigt. Diese Erkenntnis ist hart und die Konsequenzen tun auf individueller Ebene weh, sind aber der einzige Weg, sich noch einen Funken Glaubwürdigkeit zu bewahren in Deutschland und im Rest der Welt.
Fest steht: Wir müssen nachdenken über die grundsätzlichen Regelungen der Flüchtlichspolitik und der Flüchtlingshilfe und an den entscheidenden Schrauben drehen, mit Bedacht und nicht übereilt. Und: Wir müssen was tun. Ein weinendes Mädchen steht da exemplarisch für das Leid von Millionen Menschen, dem wir uns in unseren Vorstadtsiedlungen mit idyllischen Eigenheimen werden stellen müssen. Wer also nun Angie eine unpassende Reaktion vorwirft, der werfe den ersten Stein und nehme danach zwei Flüchtlinge bei sich auf. Diese Reaktion wäre angemessen.
In Zeiten, in denen sich Flüchtlingsströme über das unruhige Mittelmeer auf den Weg ins gelobte Europa machen und in denen die terroristische Bedrohung allgegenwärtig ist, sollten wir uns besser an die eigene Nase greifen, als über eine linkische Bundeskanzlerin zu debattieren. Migrationsbewegungen von arm nach reich gab es nämlich immer schon und wir werden uns ihnen stellen müssen. Denn, sind wir mal ehrlich: Auf unserer Seite des Wohlstandsgefälles geht es zu wie im Alten Rom kurz vor dessen Untergang.
Reden wir über Menschen, die an den Grenzen der Türkei erschossen werden, während wir bei unserem All-inclusive- Urlaub an der Bar einen Cocktail schlürfen. Reden wir über ertrinkende Flüchtlingskinder, die in der salzigen Gischt des Mittelmeers Todesängste ausstehen und nie die Chance auf echtes Glück hatten, während wir zur gleichen Zeit darin baden. Das moralische Damokles-Schwert schwebt über uns allen.