Überlegungen zu Martin Heidegger und der Seinsvergessenheit

Martin Heidegger kategorisiert das Wesen unserer Zeit durch eine Tendenz zur Seinsvergessenheit. Das Sein als mythologischer Wesensgrund gilt ihm als basales Fundament, auf das das Topos Menschheit fußt, ja, das es seinem Wesen nach ‚beseelt“ und gar belebt. Das Sein des Seienden zu ergründen, ist folglich sein innerstes Ziel. Das setzt die Verschiebung des interpretativen Deutungshorizonts, dessen sich die abendländische Philosophie bis dato bediente, voraus. Und zwar hin zu einer exzentrischen Interpretation dessen, was das Wesen der Welt, um mit Goethes Faust zu sprechen, im Innersten zusammenhält. Die Entdeckung dieser neuen Innenheit, des tiefgründigen Sinnesgrunds, bedingt zwangsläufig die Dekonstruktion der Welt, und zwar in der Form, als dass sie als ein in sich selbst zusammengesetzes Wirkprinzip verstanden wird, dessen Gesetzmäßigkeiten uns nur rudimentär offenkundig sind. Ebendann, wenn es uns mittels Wahrnehmung gewahr wird, erkennen wir das Seiende an, ohne uns jedoch der Macht des Seins, das die emanzipatorische Kraft des Seienden in sich bündelt, bewusst zu sein. Das Sein ist als mystische Größe sinngebend, in dem es dem Seienden ein höheres, metaphysisches Prinzip zuteil werden lässt. Um das Wesen des Seins selbst zu ergründen, um sich ihm in so weit anzunähern, dass es sich dem menschlichen Verstand zumindest tendenziell erschließt, bräuchte es eine analytische Schnittstelle, die den Einstieg hin zu den Tiefen der Deutunghorizonte erlaubt, nur um an jenem mythischen Ort das zu erkennen, was alle Qualität des Seins erst ausmacht. Eine solche analytische Schnittstelle, in der sich die menschliche Innen- und Außennwelt gleichzeitig begegnen, könnte meiner Meinung nach die Sprache sein, und zwar indem man sie dem Gehalt nach untersucht, sie von dem in unserer Zeit gängigen Grundrauschen befreie und über alles, was man nichts sagen kann, schweigt. Ja, dieser Satz stammt von einem Zeitgenossen Heideggers und ja, Wittgenstein hat Recht, wenn er seinen durch analytische Betrachtung der Sprachspiele geleiteten Versuch zur Standortbestimmung der Philosophie unternimmt. Sprache versinnbildlicht, als mit Deutungen besetzes System von gegenseitig ausgehandelten Symbolen, doch die Schnittstelle zwischen ontho- und phylogenetischer Seinswerdung, und indem sie Sprechakte gebiert, gibt sie dem Seienden nicht nur einen Namen, sondern auch ein „Bild von“ und einen „Bezug auf“. Nun könnte man, wenn man die Sprache als evolutions-historischen Akt der Menschwerdung begeift, einwenden, dass sie selbst sich in den Jahrtausenden so glatt an den Klippen der Geschichte abgeschliffen hat, dass ein Erkennen des Wesensgrundes verborgen bleiben könnte, wenn man sich ihrer als Medium zur tieferen Seins-Erkenntnis bedient. Doch, so meine ich, ist ihr noch immer das Prinzip des Seins gemein, da sie sich nämlich, ihrer Natur nach, ein Bild von der Welt macht und Begriffe schafft. Sie ist der geeignete modus operandi, um einen Vorstoß hin zu dem vorzunehmen, was Kant „das Ding an sich“ nannte, und zwar einzig, um uns der leeren Begriffschablonen zu entledigen, die uns tagtäglich in eine Sprachwüste führen, die uns dort mit illosorischen Bildern von der Wirklichkeit zu entfremden, die, sensu Heidegger, in die Seinsvergessenheit münden. Das „Sehen, was ist“ erfordert gleichsam eine Schärfung des Begriffs, eine Rückbesinnung auf dessen ureigensten Kern, namentlich die Begreiffbarmachung der Welt, ohne Umschweife, dafür mit analytischer Präzision. Ulrich Oevermann hat eben diese onthologische Bedeutung der Sprache als Medium zum Verständnis objektiver Sinnstrukturen herausgearbeitet, da nämlich die Ausdruckgestalten der Sprache durch generative Algorithmen erzeugt werden, und deren objektive Bedeutungen dem subjektiven Intentionen konstitutionslogisch vorausliegen. Indem die Objektivität der Sprache vorausgesetzt, und ihre latenten Sinnstrukturen entblößt werden können, kann Sprache auch der Einstieg zum Ergründen des Heideggerschen Seins-Verständnisses sein, freilich nur, wenn man sich Oevermanns Glaube an die Sequentialität menschlicher Lebenspraxis zueigen macht, und Sprache als Mittel zur Rekonstruktion generalisierbarer Handlungsstrukturen begreift. Sprache offenbart demnach sinnlogische Erzeugungsregeln und bietet gleichsam Handlungsmaximen, die das Subjekt gleichsam zum Agieren in der Welt, namentlich innerhalb seiner Lebenspraxis zwingen und idealtypisch in eine autonome Lebenspraxis entlassen.

In Sprache wird Handeln offenbar. Aus Kommunikation wird Interaktion geboren. Hier sehen wir, wie die sprachliche Ebene und jene der Interaktion gleichsam zusammenfließen und Handeln quasi via Sprache konstituiert und zur Lebenwirklichkeit des Seienden wird. Sprache offenbart folglich den Willen des Menschen im Sinne Schoppenhauers, und zwar indem sie sein Innerstes nach außen kehrt.

Wenn dem so ist, so lässt sich auch aus dem kommunikativen Akt, also dem Verschmelzen von Sprechakt dem sichtbaren Handeln, wieder zurückgehen zum eigentlichen Kern dessen, was das Sein selbst bedingt, sprich: die innere Natur des Seins selbst. Dieses Zurückgehen, was man auch als ein „Auf den Grund gehen von“ bezeichnen kann, vollzieht ebenfalls Oevermanns Verfahren durch das Hinein- und Herangehen in die soziale Lebenswirklichkeit des materialisierten Textes, und zwar, mittels der interdisziplinären Verschmelzung der Erkenntnisse aus allen Erfahrungswissenschaften und der Herausarbeitung einer generalisierbaren Struktur, sprich: der Fallstruktur, die sich aus dem Spannungsverhältnis von „token“ (Einzelelement) und „type“ (Typisierung) des jeweiligen Falls erst ergibt. Diese strukturlogische Ableitung, hin zum Sein, dieser Weg von der Sprache zur Rekonstruktion der Lebenspraxis, ist der richtige und zwar auch dann, wenn Overmanns Verfahren erst dort ansetzt, wo die Routine zur Krise und damit zum Fall wird.

Vielmehr plädiere ich für eine Anwendung der Methodologie auch auf Sprach- und Sinngehalte sowie Texte, die die Alltagsroutine von Subjekten spiegeln und diese schließlich zum Untersuchungsgegenstand macht. Die hermeneutische Auslegung des Textes im Sinne Gadamers, das Herausbringen der Wahrheit und ihre Entfesselung schließlich soll dabei die oberste Prämisse sein, denn sie führt, zumindest partiell, heran an das Sein, indem sie die „Enttäuschung“ der Begriffe, und zwar dem Wortsinn nach, zu ihrem Credo macht.

Über das Sprachverständnis können, beispielsweise mittels Psychologie und Sozio-Lingustik, Aussagen über die Welt getroffen werden, die qualitative, in diesem Sinne subjektive, Attribute des sozialen Arrangements berücksichtigen und dennoch objektivierbar sind. Nehmen wir das Beispiel der Worthülse X, die aus den Komponenten A, B,C besteht. Demnach müsste eine Seins-Analyse zunächst die Komponenten A, B, C offenlegen, dann jedoch auch den sozialen Kontext berücksichtigen, in dem das Produkt entstehen konnte, und müsste auch die Variablen Raum und Zeit aufgreifen. Dann würde eine solche Herangehensweise für das Wort „Kugelschreiber“ bedeuten, dass die Bezeichnung bzw. der Begriff im historischen Kontext des 19. Jahrhunderts eingebettet ist, was gleichsam den sich materialisierenden Gegenstand in jenen zeitlichen Rahmen rückt und sich inhaltlich auf ein Schreibgerät bezieht, das mittels einer Kugel Tinte auf Papier übeträgt. Das meine ich mit Präzision des Begriffs: eine Dekonstruktion des Sachverhalts, um eine stichhaltige Rekonstruktion zur Seins-Erinnerung durchführen zu können.

Nun sollte jedoch bei allem Erinnern nicht vergessen werden, dass die Hermeneutik als solche es vermag, die subjektiv-menschlichen Bedeutungsgehalte zutage zu bringen und Begriffe zu Inhalten wissenschaftlicher Auslegung zu machen, doch wir werden uns auch damit abfinden müssen, dass es abstrakte, vielleicht metaphysische Aspekte gibt, deren Bedeutungsgehalte uns gänzlich verschlossen bleiben. Eben weil wir vielleicht anderer Werkzeuge bedürften, um sie aus dem Wust der Wörter zu bergen. Um dem Sein auf die Spur zukommen, muss also die absolute Realität desselben geborgen und seine Struktur entfesselt werden. Ich will an dieser Stelle die Objektive Hermeneutik zwar als eine mögliche Methode zum Beschreiten dieses Weges anführen, aber nicht zur ultima ratio erheben. Denn eine Methode, die von sich behauptet, objektiv zu sein, nur weil sie subjektive Bedeutungsgehalte wiederspiegelt, mag vergessen, dass der Forscher, der forscht, immer in dem Moment zum Teil der Lebenswelt des Subjekts wird, wenn er das Spielfeld der Feldforschung betritt und er die Lebenswelt im Moment der Interaktion schon verändert.

Autor: Andreas Altmeyer

Autor, Friedensaktivist

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