Wie ein Tanz ums goldene Kalb

Sozialität ist die Grundbedingung des menschlichen Seins. Wo diese gewaltsam längefristig gekappt wird, werden Menschen krank. Auch ohne Corona.

Ein Kommentar von Andreas M. Altmeyer

Was macht eine Gesellschaft aus? Die Menschen, die in ihr leben und sich in ihr einbringen. Menschen, die Spaß haben, Veranstaltungen besuchen, einander im wahrsten Sinne des Wortes begegnen – idealerweise in aller Offenheit, Öffentlichkeit und mit Toleranz. Dazu gehören Kinder, die unbesorgt miteinander spielen genauso wie die Seniorenwander-Gruppe aus dem Nachbarsort, aber auch die Skat-Kumpels, die sich das ein oder andere Bier genehmigen. Es ist der Kitt des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der das Gemeinwesen als solches überhaupt erst zementiert und möglich macht.

Eine Gesellschaft, die sich all diesen Dingen in ihrer Gänze beraubt, nimmt sich auf Dauer die Luft zum Atmen. Genau das erleben wir zurzeit. Es bleibt uns sprichwörtlich die Luft weg, und das nicht nur durch die allgegenwärtige Atemschutzmaske, sondern durch das, was wir in dieser furchtbaren, in dieser noch ungewohnten Realität, erleben können. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, auf dessen Schriften ich als junger Mensch aufmerksam wurde, schreibt in seinem wohl bekanntesten Satz: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Und damit hat er Recht. Denn erst in der Begegnung entfaltet sich jenes emanzipatorische Potential, von dem wir Menschen zehren, das den Nährboden jeglicher menschlicher Errungenschaft und damit die Grundlage unseres Seins bildet. Da eben der Mensch ein soziales Wesen ist, ist die Basis dafür nämlich das Soziale in all seinen Facetten und Schattierungen. Anders formuliert: Erst in der Sozialität selbst konstituiert sich lebenswerte Wirklichkeit. 

Was wir momentan jedoch sehen, ist das Gegenteil davon, es ist die Abkehr von der Sozialität hin zur Isolation. Diese geht einher mit einem Zahlen-Wirrwarr und einer Zahlengläubigkeit, die weder zielführend, noch förderlich ist. Mehr noch: Die seit Monaten andauernde Bombardierung mit R-Werten und Inzidenzzahlen befeuert ein biologistisches Weltbild, in dem der Einzelne quasi ent-individualisiert wird und aufgeht in einer anonymen Masse. Diese Masse wird gleichwohl nur an einer Qualität gemessen: Corona positiv oder negativ. Es ist diese gewaltsame Zweiteilung, diese disruptive Untergliederung der Gesellschaft, die gruppendynamisch betrachtet äußerst bedenklich ist, da sie nicht nur spalterisch zerreißt, was zusammengehört, sondern auch ein Klima der Verunsicherung und Vorverurteilung schafft.  Dieses Klima wird bestimmt von Angst, durch Missgunst, ja: von dem Gefühl unter einer permanenten Beobachtung zu stehen.

Individual-psychologisch sorgt diese Entindividualiserung beim Einzelnen oftmals für ein Gefühl innerer Machtlosigkeit. Es ist diese erlebte Passivität durch die Kommunikation „von oben herab“, die im Sinne des Soziologen Alfred Schütz zu Prozessen des Erleidens führt, welche wiederum in Lebens- und Daseinskrisen münden können – mit all ihren dramatischen Folgen. Denn wo sich die Lebenswirklichkeit mit einer willkürlich kreierten Größe – nichts anderes sind Grenzwerte – unvermittelt und plötzlich zu ändern vermag, da wird das Individuum aus dem sicheren Fahrwasser der Alltäglichkeit geschleudert. Ist es erst einmal in die neuen Stromschnellen geraten, versucht es sich nicht selten mit aller Macht an die Werte und Zahlen zu klammern, die ihm zuvor den falschen Weg überhaupt erst gewiesen haben. Irrlichter beim Tanz um das goldene Kalb.  

Eine Gesellschaft, in der die Statistik mehr wiegt als das einzelne Ich, ist die Folge, in der jegliche Abweichung vom Kollektiv mit Sanktionen bestraft und nicht toleriert wird. Es bleibt die Frage, ist das eine Gesellschaft, in der wir zukünftig leben möchten? Denn auch wenn Corona irgendwann überwunden sein wird, wird wohl bald schon die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Und auch die sogenannten Kollateral-Schäden, zum Beispiel die Menschen, die starben, weil sie aus Angst nicht ins Krankenhaus gegangen sind oder jene, die psychisch schwer erkranken oder schon krank sind – die Ausweglosigkeit, in die man sie ob einer allumfänglichen Panikmache geführt hat, sie ist unentschuldbar.  

Was bleibt also zu tun? Wir müssen uns, komme, was wolle, die Frage stellen, ob wir weiter statistische Messgrößen zu Garanten von Menschenwohl machen. Dabei müssen wir auch abwägen, ob wir ein Leben für lebenswert erachten, in dem wir im wahrsten Sinnes des Wort auf „unvernünftiger“ Grundlage von jenen, die für uns arbeiten sollen, entmündigt werden wollen.   

Das ganze ähnelt einer Art Risikobewertung und wirft unweigerlich die Frage auf, was sich eine Gesellschaft leisten kann, was sie langfristig voran bringt und ihr gut tut, und was eben nicht. Dabei geht es keineswegs um Verhamlosung, auch nicht um ein naives „Weiter so“, es geht viel mehr um das Vertrauen auf den gesunden Menschverstand. Gesunden Menschenverstand mache ich dabei nicht allein daran fest, ob jemand seinen Mundschutz trägt oder nicht.

Vielmehr geht es mir um eine gesunde Wahrnehmung, die auch die zahlreichen Fallstricke und Unstimmigkeiten erkennt und entlarvt, mit denen uns die Bundesregierung und alle dazugehörigen Institutionen in die Fremdbestimmung manövrieren. Denn genau genommen werden wir schon lange als unmündige Bürger wahrgenommen, die nur noch reagieren statt agieren sollen.

Diese Entmündigung reicht bis ins Private hinein und mündet in Sachen Corona sogar in einem latenten Impfzwang. Diesen hat Markus Söder erst kürzlich mehr oder minder für alle Pflegekräfte formuliert. Sie sollen sich gefälligst impfen lassen, alles andere sei unverantwortlich. Wer solche Repressalien auch nur denkt, der hat das Konzept der Demokratie weder verstanden, noch ist er fähig, es zu leben. Denn wenn ein Mensch nach Abwägung aller ihm wichtigen Entscheidungskriterien zu dem Schluss kommt, nein zur Impfung zu sagen, so ist das eben sein Entschluss. Punkt. Doch auch hier wird die Gesellschaft gespalten, ungeachtet der Tatsache, dass eh nicht genügend Impfstoff für alle da wäre, die Impfstoff-Erzeugung in privater Hand liegt, damit unmittelbare Gewinninteressen geknüpft sind und so fort.

Das Konzept der Gesundheit umfasst eben mehr als nur eine Perspektive. Es beinhaltet soziale Komponenten genauso wie wirtschaftliche oder gar psychologische. Und wir täten guten daran, in Sachen Gesundheitsschutz nicht nur eine Krankheit wahrzunehmen, sondern auch die soziale Realität, in der sie sich vollzieht, sowie die Bedürfnisse der Akteure. Nur so ist eine Gesellschaft zukunftsfähig. Das Ganze ist schließlich mehr als die Summe seiner Teile.

Autor: Andreas Altmeyer

Autor, Friedensaktivist

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