In der westeuropäischen Sphäre wirkt die Corona-Krise wie ein Brennglas, das die gesellschaftliche kapitalistische Realität verdichtet und deren Abgründe schonungslos offenbart. Das beginnt schon damit, dass die Verordnungen und Erlasse quasi im „Top-down-Prinzip“ jene diktieren, die am wenigsten von selbigen betroffen sind. Namentlich die vom pulsierenden Herz der Gesellschaft entrückte politische Kaste der „White Collars“, die bei ihrer Entscheidungsfindung weder moralisch-ethische, noch gesellschaftliche tragbare Faktoren berücksichtigen muss, obgleich sie als „Angestellte des Volkes“ voll und ganz dazu verpflichtet wäre.
Diese Verpflichtung beinhaltete auch, dass ein staatlich verordneter Lockdown nur als allerletztes Mittel der Wahl überhaupt erst hätte in Erwägung gezogen werden dürfen und zwar nach sorgfältiger Prüfung aller potentiell wählbaren Optionen. Diese Prüfung hätte sicherlich auch die Einbeziehung eines Expertenrates aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, wie beispielsweise der Soziologie, Psychologie, Ökonomie und so weiter bedurft. Auf diese Weise hätte der Zielsetzung „So viel Einschränkung wie nötig, so wenig wie möglich“ solide und auf evidenter Basis Folge geleistet werden können, um einseitige, unangemessene und voreilige Schlüsse zu vermeiden.
Stattdessen aber erließen und erlassen Politiker die „Schutzmaßnahme Lockdown“ mehr als großzügig, blind vertrauend auf einen sehr kleinen Rat der Weisen, der sein Urteil einzig und allein von Messwerten und Zahlen abhängig macht, die allesamt aus einem biologisch-medizinischen Umfeld stammen, ungeachtet scheinbar der Nachwehen, die eine solche Einseitigkeit mit sich bringt. Denn Nutzen und Wirkungsgrad der Maßnahme „Lockdown“ ist zumindest diskussionswürdig. Das legt beispielsweise die Stanford-Studie von Prof. Ioannidis nahe. Doch eine echte Diskussion findet im politischen Raum schon lange nicht mehr statt.
Die Gräben der kapitalistischen Lebenswelt, die schon vor Corona von Altersarmut, Niedriglohn und Privatisierung auf allen Ebenen geprägt war, vertiefen sich weiter. Eine Gesellschaft der Ungleichheit, in der sich die einen im Lockdown dicke Wohlstandsbäuche anfuttern, während der Alltag der anderen – zum Beispiel jener von Busfahrern, Kassiererinnen, Pizza-Boten und so fort – unverändert vonstattengeht. Wäre dem nicht so, könnten sich jene, die daheim bleiben, weil sie es dürfen, keine Wohlstandsbäuche anfuttern. So einfach ist das. Es geht hier, darauf lege ich Wert, nicht um Verurteilung der einen gegenüber den anderen, es geht um Wahrnehmung, und zwar des gesamten breiten Spektrums, in dem sich die Corona-Krise vollzieht.
Corona bietet damit nicht zuletzt auch Potential zur gesellschaftlichen Spaltung und verstärkt sie. Diese Spaltung betrifft einerseits die Arbeiterschaft, an deren einem Ende bestens abgesicherte Facharbeiter sitzen, während am anderen Ende Zeitarbeiter ihr Dasein fristen. Jener Riss verläuft aber auch in weiten Teilen des Dienstleistungs- und Servicesektors, wo sich unterbezahlte Mitarbeiter zum Mindestlohn verdingen müssen. Sie alle sind Teil dieser ehemaligen Arbeiterschaft, von der Marx sprach, sie alle müssten eigentlich mit einer Stimme unisono sprechen. Doch gerade die bestens versorgte und abgesicherte Teilmenge scheint sich für die Nöte ihrer Kollegen wenig oder gar nicht zu interessieren. Wo dieses Klassenbewusstsein aufgeweicht wird durch Eigennutz und Vorteilsnahme, da hat die Durchsetzung nachhaltiger Interessen keine Chance mehr, da ist die Selbstbehauptung und Emanzipation dieser neuen prekären Arbeiterschaft verloren.
Was bedenklich ist: Meist fordern gerade die Menschen härtere (und immer härtere) Corona-Maßnahmen, die sich das überhaupt erst leisten können. Es sind solche Menschen, die sich mittels unbefristeten Arbeitsvertrags in relativer ökonomischer Sicherheit wähnen und mit dem Laptop auf den Knien – zwischen Bügelbrett und Wäsche waschen – E-Mails schreiben. Das Ganze wird dann Home-Office genannt, und von vielen Home Officers mit wehleidiger Miene konnotiert. Das Auto steht derweil brav in der Garage, verbraucht kein Benzin, die Klamotten müssen auch weniger gewaschen werden und man hat sogar noch mehr Zeit, sich um sich selbst zu drehen. Kurz: Man spart Geld. Solche Opfer bringt Mann, respektive: Frau, doch gerne, oder? Dabei ist es genau genommen nicht so sehr selbstlos, sondern in aller erster Linie bequem, ein heroischer „working couch potato“ zu sein.
Denn diese Form des Altruismus verlangt nicht viel ab: Bietet dieser Rückzug in die neue Privatheit doch noch mehr Möglichkeiten zum Egozentrismus und serviert dazu gratis noch ein gutes Gefühl, während all die vielen anderen diesen Wohlstand überhaupt erst sicherstellen. „Uns geht es doch gut“, hört man dann die Helden von der Couch herab rufen und das stimmt! Aber wo bitteschön, ist die viel gerühmte „christliche Agape“, oder das Mitgefühl den Anderen gegenüber? Gegenüber den unzähligen Arbeitern, Dienstleistern, Sicherheitsmitarbeitern, Taxifahrern – die nicht in der öffentlichen Wahrnehmung präsent sind, deren Arbeitsalltag aber (fast) so weitergeht wie vorher. Schlimmstenfalls aber mit deutlich weniger Geld in der Tasche, und zwar ohne Schichtzulage, Boni, Kurzarbeitergeld und Job-Perspektiven?
Apropos Perspektiven: Sollten wir diese Krise, irgendwo, irgendwie, irgendwann mal überwunden haben, so trifft es genau diese prekäre Dienstleiter- und Arbeiterschaft am Härtesten, und nicht den fest angestellten Facharbeiter bei Daimler-Benz, für den es die Gewerkschaft bei der nächsten Tarifrunde bestimmt richten wird. Auch Kranken- und Altenpfleger, Gott schütze sie, wird die Krise nicht aus der Bahn werfen, denn sie werden händeringend gesucht. Einen glatten Bauchschuss werden aber all jene erleiden, die schon vor der Krise schlechte Chancen auf dem „Arbeitsmarkt“ hatten und denen die Digitalisierung jetzt noch mehr als zuvor das Wasser abgräbt: die alleinerziehende Bürokauffrau mit zwei Kindern und Zeitvertrag, die Mitfünfzigerin in der Putzkolonne, der Sicherheitsmitarbeiter. Kurz: All jene, die keine starke Lobby haben.
Ich höre jetzt schon die neoliberalen Auguren raunen: „Seid dankbar für jeden Job, auch wenn ihr fünf davon machen müsst, um eure Familie zu ernähren. Nach der Krise müsst ihr die Zähne zusammenbeißen. Da kann man nichts erwarten. Mindestlohn? Den müssen wir senken! Energiepreise? Die müssen steigen!“
So kommen die einen in der „post-coronaren Phase“ wieder frisch und munter aus den Home-Offices dieser Republik gewackelt, während die anderen nie weg waren von der Bildfläche – weil ohne sie die Existenz der anderen gefährdet gewesen wäre. Dieselben Auguren werden dann vom „Aufschwung“ sprechen und dass man sich jetzt wie noch nie ins Zeug legen müsse. Das alles werden sie mit dem Deckmantel der Menschlichkeit und des Gemeinwesens versehen, aber in Wahrheit geht es nur darum, die Gewinne weiter zu maximieren und satte Dividenden abzuschöpfen.
Dass dieses Spiel auf Kosten von Menschenleben geht, wird auch in unseren Nachbarländern deutlich. Besonders die Länder, die vom Internationalen Währungsfond (IWF) in der Vergangenheit hart an die Kandare genommen, und zu schweren Einsparungen gezwungen worden waren, trifft die Krise mit voller Wucht. Beispiel Portugal: Seit das Land 2011 unter den Euro-Rettungsschirm geschlüpft ist, war es gezwungen, 800 Millionen Euro im Gesundheitssektor einzusparen. Das rächt sich jetzt. Beispiel Spanien: Hier rutschte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen April und Juni 2020 in den Keller, schon 2012 hat der IWF die Iberer aufgerufen, einen Austaritäts-Kurs einzuläuten. Unter anderem solle man Löhne senken, um den Arbeitsmarkt zu beleben. Dazu kommen Notkredite für die fünfundzwanzig ärmsten Länder dieser Erde, die zwar schnelle Hilfen, aber langfristige finanzielle Abhängigkeiten für eben diese Länder mit sich bringen dürften. Dann wären da noch die Interessen einer übermächtigen Pharma-Lobby, die mit dem Impfstoff-Geschäft die Freuden eines neu belebten Marktes genießen wird. Auch dieser Markt wird einzig und allein bestimmt von Börsenkursen, Dividenden und Gewinnmaximierung. Das sollte man nicht vergessen.
Kurz: Die Kugel auf dem Roulette-Tisch des internationalen Finanzkasinos rollt auch jetzt ungebremst weiter.
Doch nochmal zurück nach Deutschland. Während hier für Krankenpfleger und Schwestern wenigstens schon mal geklatscht wird, können sich die „Paria des Dienstleistungssektors“, zum Beispiel die Verkäufer, Frisöre und Putzfrauen, schon freuen, wenn sie Samstagnachmittags im Einkaufstrubel nicht angehustet werden. Sie führen ein Schattendasein im gesellschaftlichen Bewusstsein, sind im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Fokus“ geraten.
Das allumfängliche Credo des „Gesundheitsschutzes“ bietet den „Wohlständlern“ von heute einen so warmen Kokon, dass sie sich noch weniger um andere kümmern müssen und sich dabei auch noch verdammt gut fühlen können. Genau mit diesem „Breit machen dürfen“ in der persönlichen Wohlfühlzone ist es zu erklären, dass sich in Deutschland (noch) so wenig kritische Geister äußern. Der Deutschen Sache, das ist der Blick über den eigenen Tellerrand halt meist nicht. Da reicht die Solidarität meist nur vom Fernseh-Sessel bis zur Haustür. Dabei bräuchte es keine inhaltsentleerten Werbekampagnen, sondern nur ein wenig Reflexionsfähigkeit, um zu verstehen, dass so viele Menschen von den gegenwärtigen Maßnahmen existentiell betroffen sind und noch betroffen sein werden.
Fest steht: Die Ideen, wie diesen Menschen dann zu helfen ist, werden nicht von denen kommen, die ihnen das Brot nahmen. So viel ist sicher. Es läge an uns, nur an uns, unsere „noch Regierenden“ durch Protest und freie Meinungsäußerung in echten Zugzwang und eine Abkehr vom „Weiter so“ zu bringen. Aber der Funke dieser Erkenntnis ist bei vielen noch nicht übergesprungen. Leider. Sie werden sich im Nachhinein beklagen: über steigende Krankenkassenbeiträge oder gestiegene Energiepreise, motzen, und sich die Bildzeitung kaufen.
Neulich war ich im Supermarkt. Da meinte eine Kundin zu einer anderen, dass ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fiele vor Langeweile. Die Kassiererin schob derweil weniger gelangweilt den Wocheneinkauf der Frau über den Scanner und kommentierte das Gespräch mit einem trockenen „Das macht dann fünfundfünfzig Euro sechzig“. Ich sehe die Kassiererin fast täglich dort arbeiten.