Sturm aufs Kapitol, oder: Spiel mir das Lied vom Tod

Das Land, in dem die Freiheit einst so groß geschrieben wurde, ist tief gespalten.

Ein Kommentar von Andreas Altmeyer

Gewalt, das muss klar sein, ist weder ein brauchbares noch ein zu tolerierendes Mittel. Aus diesem Grunde sind die gestrigen Demonstrationen und erst recht die Erstürmung des Kapitols ganz klar zu verurteilen und nicht hinzunehmen. Auch dass zwei Menschen bei diesen Ausschreitungen ums Leben kamen, ist mehr als bedauerlich. Doch was ich mir von den Medien gewünscht hätte, wäre, nach den tiefer liegenden Ursachen für ein solches Geschehen zu fragen, und zwar ganz abgesehen von den irrsinnigen Sticheleien eines egomanischen Noch-Präsidenten, die sicherlich Öl ins Feuer gossen. Die Frage nach dem „Warum“. Doch danach sucht man in der deutschen Presselandschaft zuweilen vergebens.

Da fragt sich der SPIEGEL betroffen, wie es dazu in der ältesten Demokratie der Welt überhaupt kommen konnte, während die FAZ das mangelnde Sicherheitskonzept des Kapitols beklagt und die Süddeutsche in ihrem Aufmacher „Amerikas Tag der Schande“ titelt. Diese Zustandsbeschreibungen sind zwar allesamt emotional aufgeladen, aber eindeutig zu kurz gegriffen, denn das, was sich da gestern in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten abgespielt hat, ist nur ein Symptom dessen, was tief im Gefüge der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist und in ihr rumort. Es ist eine Gesellschaft, in der der „American Dream“ längst ausgeträumt ist und der „American Way of Life“ für die meisten Bürger einer holprigen Fahrt auf einem steinigen Lebensweg gleicht. Es sind unter anderem die sogenannten Modernisierungsverlierer, die zahllosen Arbeitslosen des Rust Belt  beispielsweise, die all ihre Hoffnungen auf Trump setzten, eben jene, die gegen ein korruptes Establishment revoltieren, in dem für sie kein Platz mehr ist. Viele von ihnen fühlen sich entwurzelt in einem Land, in dem die soziale Schere immer weiter auseinanderklafft, dessen Vorstädte oft Armutsvierteln gleichen und das seine Demokratie gegen eine internationale Finanz- und Online-Oligarchie eingetauscht hat.  

Eine Mischung aus zu kurz gekommener Bildung und nationalem Eifer tut ihr Übriges, um aus den Trump-Anhängern ein heterogenes Sammelbecken Gewaltwilliger und Radikaler zu machen. Wo wir gerade bei Bildung sind: Auch im amerikanischen Bildungssystem sind die Chancen ungleich verteilt, die Aufstiegsmöglichkeiten der Kinder hängen enorm vom sozialen Status ihrer Familie ab. Das spiegelt sich in konkreten Zahlen wider: Nur 10 Prozent der Schüler, die später an den besten Universitäten des Landes studieren, stammen aus der unteren Mittelschicht. Dazu kommen private Finanzierungen der Schulen, sodass jene in reicheren Stadtteilen gegenüber denen in ärmeren Gegenenden enorme Standortvorteile genießen. Obendrein starten die meisten der Uni-Absolventen im „land oft he brave“ dank hoher Studiendarlehen völlig überschuldet ins Berufsleben.

Jetzt fragen Sie sich vielleicht, was all das mit den Ausschreitungen gestern zu tun hat. Die Antwort: vieles! Denn wenn Menschen sich abgehängt fühlen, neigen sie dazu, ihre Hoffnungen auf eine Erlöser-Figur zu projizieren und sich, parallel dazu, zu radikalisieren. Trump bot diese Projektionsfläche an, ungeachtet seiner zahlreichen Fehltritte und Unzulänglichkeiten. „America first“, das war für viele eine Formel der Wertschätzung, ein nationales Aufbäumen gegen verkrustete administrative Strukturen – auch wenn Trump paradoxerweise selbst ein Spross dieser elitären Strukturen ist. Dass der „Savior“ himself nun selbst auch noch – in seinen Augen – verraten und verkauft wurde, dürfte sein Identifikationspotential bei seinen Anhängern nur noch erhöhen und ihre Wut anstacheln. Längst ist er in ihrem sektiererischen Weltbild zum vermeintlichen Problemlöser avanciert.

Das Totenlied der amerikanischen Demokratie, das Requiem of the American Dream, wie es Chomsky nannte, es wurde längst angestimmt. Die zarte Pflanze der Demokratie verblüht mit oder ohne Trump. Auch Joe Biden wird nur noch den Trockenstrauß flechten dürfen, der übrig geblieben und für den er mitverantwortlich ist.

Vielleicht sind diese Szenen, die sich weit auf der anderen Seite des großen Teichs abspielen, ja nur ein Vorgeschmack dessen, was auch wir im (noch) ruhigen Hafen Europa erwarten dürfen – in fünf bis 10 Jahren vielleicht. Doch der Glaube an den einen Erlöser ist immer ein Irrglaube, wenn auch ein bittersüßer.     

Autor: Andreas Altmeyer

Autor, Friedensaktivist

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