Es ist ein Greuel, was sich derzeit auf bundespolitischer Ebene abspielt. Da schmeißt eine Annegret Kramp-„Knarrenbauer“ mehr oder minder überfordert Amt und Würden hin, ein sogenanntes Führungsduo führt die alte Tante SPD in die politische Bedeutungslosigkeit, und die AfD macht einen bis dato unbedeutenden Liberalen in Thüringen zum Landesvater – für etwas mehr als einen Tag jedenfalls. So mag sich dem ein oder anderen Betrachter zurecht die Frage stellen, ob dieses Drehbuch, nach dem hier agitiert, getrickst und getruckst wird, jenes einer schlechten Schmierenkomödie ist. Obgleich ist es eben der fast schon komödiantisch anmutende Ductus großer Teile der berufspolitischen Eliten und das mit ihm verbundene Machtbeben, was eine Tatsache nur zu gut offenbart: Das parteipolitische System der sogenannten repräsentativen Demokratie stößt langsam aber sicher an seine Grenzen. Während die AfD’sche Schachbrett-Strategie in Thüringen eher an eine schlechte Folge von House of Cards erinnert, mag man sich nicht vorstellen, was ein gelungener Schachzug hätte auslösen können. Dieses Szenario wird eintreten, früher oder später jedenfalls. Leider.
Fest steht – trotz misslungener erster Partie – das Bauernopfer, das die Kanzlerin aus der Ferne, sozusagen in Stallregie, bestimmte: In diesem Fall traf es den Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte. Der hatte Herrn Kemmerich via Twitter zur gewonnenen Wahl gratuliert – das hieß für seine politische Karriere dann: gone with the wind, aus und vorbei. Was macht eigentlich ein Ostbeauftragter und gibt es auch einen Nord-, Süd- und Westbeauftragten? Wir werden es wohl nie erfahren …
Dabei stellte man sich in all den Sondermeldungen und Breaking-News der Mainstream-Journaille bewusst eine Frage nicht: Ist ein Wahlsystem, respektive Wahlrecht, das solche strategischen Sperenzien zulasten des Wählerwillens erst möglich macht, überhaupt noch tragbar, gerade mit dem Erstarken der Neuen Rechten?
Und es hat Gründe, warum genau diese Frage nicht auf der tagespolitischen Agenda erscheint. Denn nur allzu lange haben die sogenannten Volksparteien selbst von farbenprächtigen, jedoch mehr oder minder brüchigen Koalitions-Bündnissen, deren Protagonisten für sich alleine genommen längst nicht mehr mehrheitsfähig waren, profitiert und dafür immer wieder wunderbare Bezeichnungen gefunden – von Jamaika bis hin zu Kiwi. Die Hinwendung zur Macht mit der damit verbundenen Abkehr von eigentlich unverrückbaren parteilichen Eckpunkten führte letztlich zu einer inhaltlichen Entkernung – siehe SPD – und in nicht allzu ferner Zukunft zur Selbstzerstörung jener Parteien, die in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Wahlen noch satte 40 Prozent und mehr erreichten. Und es sind eben diese Folgen jener Selbstdekonstruktion, die wir nun sehen und erleben können. Machtpolitik im Endstadium sozusagen und die endgültige Lossagung von jenen Werten, die zumindest noch den äußeren Schein gewahrt haben – namentlich: Christlichkeit, Solidarität und Sozialität. Doch das S in „SPD“ ist massiv geschrumpft, genauso wie das C in „CDU“ nur noch ein Schattendasein fristet.
Das offene Bekenntnis der Thüringen-CDU zu Kemmerich zeigt dies sehr deutlich, handelte es sich dabei doch keineswegs um ein Bekenntnis zur bürgerlichen Mitte, sondern vielmehr um ein Bekenntnis zur „Macht um jeden Preis“ – ganz gleich, ob man da indirekt für die AfD als Königsmacher fungieren muss oder eben nicht. Schon wittern die Christdemokraten im benachtbarten Sachsen-Anhalt Morgenluft, und proklammieren, dass eine Kooperation mit den Rechts-Konservativen wirklich nicht auszuschließen sei. Wählerwille sei Wählerwille. Und Machtversessenheit eben Machtversessenheit. Punkt.
Oft schon schrieb ich in meinem Blog, dass die AfD nur ein Symptom ist – und es stimmt noch immer: nämlich ein Symptom für die Unfähigkeit der sogenannten repräsentativen Demokratie auf der einen und für die Entrücktheit vieler berufspolitischer Eliten auf der anderen Seite, die ihre Karriere vor höhere Ziele und ihren Egozentrismus vor das Gemeinwohl stellen. Doch diese Entwicklung war absehbar, ist sie letztlich doch das Ergebnis einer Pseudo-Demokratie, deren Anstrich an allen Ecken abzublättern droht. Denn eigentlich war dieses System ja nie darauf ausgelegt, den Wählerwillen zu respektieren, sondern eher, ihn, den Wähler, als höriges Wahl-Vieh zu betrachten, dazu finde ich diese Worte Goethes recht passend: „Niemand ist mehr Sklave als der, der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ Und dieses bittere Gefühl mag da schon manchmal aufkommen, wenn die Diskussion um eine klägliche Grundrente zur Never-Ending-Story wird, die Zahl der prekären Beschäftigungs-Verhältnisse steigt, Massenentlassungen drohen und der Staat sich der Privatisierung preisgibt. All das ist der eigentliche Nährboden für rechts und damit für die AfD.
Doch noch immer ist man sich in den ehemaligen Machtzentren Deutschlands nicht darüber bewusst, dass die Partei in Blau nicht nur einen Systemabsturz provoziert, sondern ihn durchaus auch erreichen könnte – obgleich die Wahlergebnisse dieses durchaus vermuten ließen.
Eine jener traurigen Figuren, die in ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit umherirrt, ist die bereits weiter oben erwähnte Frau Kramp-Karrenbauer. Als Partei-Bossin zwar zurückgetreten, möchte sie als willfährige Gehilfin in ihrem Amt als Verteidigungsministerin nur allzu gerne weiter für den Big Brother im Westen in den Krieg ziehen und die Rüstungsausgaben erhöhen. Bleibt nur zu hoffen, dass sie auch dieses Amt nicht länger bekleiden will.
Die Frage jedenfalls, ob und wie diese Industriesprecher, die sich Politiker nennen, jene Risse kitten wollen, die sie der Demokratie selbst zugefügt haben, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Fest steht aber, dass die AfD nicht mehr so schnell aus den politischen Gefilden verschwinden wird – und da liegt schon das ganze Dilemma. Denn wie eine Partei besiegen, die ohne das Versagen der anderen gar nicht erst entstanden wäre, wie sie verdrängen, wenn sie das System, aus dem sie erwachsen ist, nur mit seinen eigenen Mitteln schlägt? Dies würde nur dann funktionieren, wenn das System selbst verändert würde, wenn sich sozusagen seine Vorzeichen änderten. Denn das Paradoxe an der gesamten Thematik ist ja, dass eine Partei, die genau genommen zutiefst intolerant agiert, für sich die volle Toleranz des Systems in Anspruch nimmt. Ironie des Schicksals, könnte man das nennen. Nochmal der gute alte Goethe dazu: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Dass die AfD sich immer weiter radikalisieren und parallel dazu versuchen wird, vorerst noch den Schein des bürgerlich-konservativen Oppositionsführers zu bewahren, steht außer Frage. Denn dieser modus operandi hat bei vielen Menschen Erfolg, jedenfalls bei jenen, bei denen die Sehnsucht nach einer monokausalen Weltordnung und nach nationalem Protektionismus einerseits und die Enttäuschung in die Altparteien andererseits enorm groß ist. Doch immer öfter sieht man schon jetzt das wahre Gesicht der AfD, zum Beispiel dann, wenn sich bei bei den Anhängern des „Höcke-Flügels“, rechts außen sämtlicher Hass bei nationalen Parolen entlädt. Wie damit umgehen? Mit Toleranz gegenüber den Intoleranten? Oder im Sinne Karl Poppers, der einst davon sprach, dass wir im Namen der Toleranz die Intoleranten nicht tolerieren dürfen?
Die Frage wird sein, ob die Partei „Die Linke“ diesem Ruck nach rechts wird Paroli bieten können. Ich wage zu prophezeien: nein! Denn das gelänge nur dann, wenn sie sich von alten ideologischen Phrasen verabschieden würde, ohne von ihren Kernthesen abzulassen. Es bedürfte außerdem einer für die Masse leicht verständlichen Meta-Theorie, die den linken Kernpunkt „Soziale Gerechtigkeit“ so kommunizierte, dass er als Botschaft ankäme, verbunden mit einer Abkehr vieler Linker von ihrer selbstgefälligen Ansicht, alles und jedem die Welt erklären zu wollen, während sie auf einer Couch irgendwo in Berlin-Kreuzberg idealtypische Gesellschaftsbilder skizzieren. Man verzeihe mir diesen Stereotyp.
Wenn man sich mit jenen Sachverhalten beschäftigt, muss man zweifelsohne zur Schlussfolgerung gelangen, dass eben jenes System, das von neoliberalen Vordenkern wie Walter Lippman in den 1950ern geprägt und in unzähligen transatlantischen Think Tanks bis heute verfeinert wird, sukzessive überwunden werden muss und zwar hin zu einer direkten Demokratie, in der die machtpolitische Verzahnung von Wirtschaft und Volksrepräsentanten nicht als notwendige Bedingung für berufspolitischen Erfolg gilt. Dabei geht es gar nicht um die Durchsetzung irgendeiner Ideologie oder eines Ismus etwaiger Couleur, sondern darum, konzeptionelle Wege aufzuzeigen, wie das menschliche Zusammenleben auf Dauer möglich und gerecht ist. Was wie der Spruch auf einem Kalenderblatt daherkommt, ist nun mal eine der drängendsten Fragen unserer Zeit.
Genau auf diese Frage kann und wird uns eine fremdbestimmte politische Klasse keine Antworten geben.