Das Ziel aus den Augen verloren

von Andreas M. Altmeyer

Wir leben in einem Land des Scheins, in dem das Symbol über allem, der thematische Gegenstand, die Sache selbst, „unter allem“ steht. Nur so ist es zu erklären, dass schon seit geraumer Zeit der öffentliche Diskurs in eine stumpf- und zuweilen irrsinnige Richtung verläuft. Maßgeblich flankiert von den öffentlich-rechtlichen Medien, wurde diesem das Wasser abgegraben von den willfährigen medialen Erfüllungsgehilfen einer schnöden Regierungspropaganda, die deren Inhalte weitestgehend ungefiltert in die Welt hinaus posaunen.

In einem Land des Regenbogens leben wir da, mitten in einer von Olaf Scholz an einem sonnigen Sonntagmorgen propagierten Zeitenwende, die eigentlich „Zeitenkehrtwende“ heißen müsste, wollte man mit jener Begrifflichkeit tatsächlich begreifbar machen, um was es sich handelt – nämlich um militärische Aufrüstung und devote Bündnistreue dem US-Imperialismus gegenüber, ganz gleich, welchen Preis das eigene Volk dafür auch wird zahlen müssen, verbunden mit der wirtschaftlichen Selbstamputation und dem endgültigen Abschied von einer von Moralvorstellungen geleiteten Außenpolitik, die die eigenen, nationalen Interessen auf humane Weise verträte.

Mehr noch zeigt der sogenannte öffentliche Diskurs, wie vergesslich man im Volke der Dichter und Denker geworden ist, und dass das Denken in weiten Teilen längst aufgegeben wurden, stattdessen herrscht die endgültige „Bild-Zeitungs-Leser-Mentalität“ vor, die an Einfältigkeit und Infantilismus nicht mehr zu überbieten ist. So wird allen Ernstes tage- und wochenlang medial gefachsimpelt, ob und wie man, also die sogenannte Mannschaft, ein „Regenbogen-Statement“ in Katar setzen kann, nur um des Zeichens willen, und es entfacht sich ein wahres „Bindendrama“, dessen fragwürdiger Höhepunkt im Zuhalten der Münder vor Spielbeginn mündet. Die Partie sportlich verloren hat man dennoch, aber das ist Nebensache.

Irgendwie spiegelt dieses Zeichen, das Mundzuhalten, ja auch die derzeitige Befindlichkeit vieler Menschen in Deutschland, wenn auch anders als von den Protagonisten der Geste intendiert. Zeigt es doch die Sprachlosigkeit der Mehrheit in einer Welt des Scheins und der mittels Instagram-Filtern geglätteten selbstverliebten Weltsicht, in der die großen Gesten sich in einem Symbol erschöpfen und an der inhaltsleeren Oberfläche verharren.

Ja, die sexuelle Vielfalt und Selbstverwirklichung sind wichtige Themen. Doch es gäbe im Moment zweifellos drängendere Sujets, denen man sich mit aller Ernsthaftigkeit widmen könnte und müsste. Immerhin wird momentan durch zwei Atommächte der Weltfrieden bedroht und es müsste dringend eine Verhandlungslösung her, statt mit immer mehr Waffen auf ein globales Desaster zuzusteuern. Doch „Gratis-Mut“ an den Tag zu legen, steht den millionenschweren Fußball-Soldaten, die selber nur für ihre eigenen kapitalgeleiteten Interessen ins Felde ziehen, deutlich besser zu Gesicht. So werden wir wieder einmal Zeugen eines gestischen Debakels, einer zwanghaften Entpolitisierung des gesellschaftlichen Debattenraumes, der nur noch als Schaubühne für „Partikulärinteressen-Propaganda“ herhalten muss.

Wir „gendern“ uns im wahrsten Sinne noch zu Tode, bevor wir uns den wesentlichen, den wichtigen Dingen zuwenden, wenn überhaupt. Die Egomanie des Einzelnen über das Wohl der Gesellschaft – so lautet das Credo. Schwach, heuchelnd, kleinlaut, gebrochen von der kapitalistischen Warenwelt und ihren Fallstricken.

Das Wesentliche, das wäre beispielsweise unsere Bundesregierung seitens der Bevölkerung zu drängen, sich von der US-imperialistischen Bündnisstreue herauszulösen, im Ukraine-Konflikt den gesamten Zeitstrahl der Geschichte zu betrachten. Die Notwendigkeit einer Verhandlungslösung mit Russland ernsthaft zu bedenken, weil wir eben ein rohstoffarmes Land sind, das seinen Energiebedarf (noch) nicht allein über regenerative Energie abdecken kann. Das ist zwar schade, aber die Realität.

Doch eine Verhandlungslösung, ein deutscher respektive europäischer diplomatischer Alleingang, wird keineswegs diskutiert im öffentlichen Raum der Mainstream-Medien. Denn mit „den Russen“ verhandelt man schließlich nicht, weil die ja böse sind. Man selbst hingegen wähnt sich auf der moralisch guten Seiten der Medaille. Wir sind so bipolar in einer längst multi-polaren Welt. Machen den Bückling in Katar, aber den Mund weit auf, wenn’s um die nordamerikanische Wertegemeinschaft geht.

Weitestgehend nicht hinterfragt im sogenannten Mainstream bleibt auch die selbstverliebte Ideologiegläubigkeit der Bundesregierung, die sich auf dieser moralisch „guten“ Seite der Medaille wähnt, und in ihrem bald noch viel pompöseren Kanzler-Protzbau dem Volke predigen wird, es kann ja statt Brot auch Kuchen essen, beziehungsweise einfach mal nicht so lange duschen.

Der Zeitenkehrtwende sei Dank ist es auch durchaus möglich, wieder das Unsagbare zu proklamieren, wie neulich erst der Chef des Stiftungsrates der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger es getan hat, als er darauf hinwies, es sei wichtig, in Deutschland generell eine Kriegswirtschaft zu etablieren.

Die Hybris unserer Gesellschaft der Schlafschafe zeigt sich auch darin, dass sie sich vor solchen wahnhaften Ideen und „Kapital-Geiern“ wegduckt, dass sie dazu eben kein klares Statement auf den Lippen hat oder gar Verhalten an den Tag legt, dass sie einen solchen Lobbyisten wie Ischinger – und mit ihm viele andere wie Merz, Baerbock und Co – seine spätkapitalistischen Dogmen verbreiten lässt. All das in dem Irrglauben, unverrückbar auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Ökologisch verträglich, aber bewaffnet bis an die Zähne.

Baerbock reist währenddessen nach Indien und will Land und Leute belehren, mit Russland keinen Handel zu treiben. Sie reist an mit ihrem Tross von Fotografen und Hofberichterstattern, die sie umgarnen wie die Schmeißfliegen und schöne Bilder schießen werden. Denn die Bilder werden im Gedächtnis bleiben, nicht die Inhalte. Frau Baerbock spricht mit dem indischen Außenminister über eine wertgeleitete Ordnung der Welt. Wie ironisch. Doch der Außenminister von Indien ließ sich nicht belehren, von der ehemaligen Trampolin-Springerin, die vom Völkerrecht kommt. Gut so.

Aber Hauptsache die Geste stimmt: Frau Baerbock vor dem Tempel mit Blumen in der Hand, Frau Baerbock in der U-Bahn.  

Ein gefährliches Blumenmädchen ist diese Frau Baerbock, denn sie ist dramatischer Weise von sich und damit von der Richtigkeit ihrer öko-faschistoiden Wahnvorstellungen überzeugt. Hauptsache das Symbol stimmt, kann vermarktet werden, auf allen Kanälen. Alles kratzt an der Oberfläche, zahlt aber auf die „Marke Baerbock“ ein.

Ja, wir leben inmitten einer Zeitenwende. Die zeigt sich aber nicht alleine in der mit ihr einhergehenden militärischen Aufrüstung, sondern vor allem in der verlorengegangenen Verbindlichkeit. Eine Gesellschaft, in der „alles kann, aber nichts muss“ ist nicht plural. Sie ist in ihrem gesellschaftspolitischen Streben stattdessen eher singulär und verliert nicht nur die eigenen Interessen aus dem Blick, sondern letztlich auch ihre nationale Identität.

Alles ist unverbindlich und so beliebig geworden: in einer Welt, in der jede/r jede/r sein kann, wenn er nur will. In von der Lebenswirklichkeit entfernten Homeoffice-Enklaven, in einer Nehmer-Gesellschaft, die verlernt hat sich zu erinnern, auf welch brüchigen Säulen ihr Wohlstand gebaut ist.  

In der wahnhaften Idee von „no nations, no boundaries“ wird prinzipiell alles unverbindlich: die Debattenkultur und die Grenze zu mir und „den anderen“. Ein Zwangs-Universalismus, der in der identitätslosen Masse mündet, die sich dirigieren und steuern lässt und deren Systemkritik durch die Zentrierung aufs eigene Selbst verloren geht. Grenzenlos nach außen, aber begrenzt im Inneren. Verloren am Ende des Regenbogens.


Die Raketeneinschläge in Polen

Interessanterweise führen einige Headlines der heutigen Ukraine-Lei(d)artikel die Leser bewusst auf einen investigativen Holzweg. Ist da doch die Rede von zwei russischen Raketen, die im kleinen Dörfchen Przewodów, „janz weit draußen“ auf dem polnischen Land, eingeschlagen sind. Ganz nach dem Motto: Die Russen waren’s.

Die Überschriften stimmen nur insofern, als dass es sich um Raketen russischen Fabrikats handelt, was nicht zwangsläufig auch heißen mag, dass diese von russischen Verbänden abgeschossen wurden. Nun hat sich Mr. Joe Biden relativ schnell zu dem Sachverhalt geäußert, wie gewohnt alles andere als rhetorisch stark zwar, aber immerhin eindeutig. Man gehe nicht von einer russischen Beteiligung aus, heißt es in seiner raschen Verlautbarung. Punkt.

Dafür sprechen m. E. mehrere Hinweise. Erstens besitzt die ukrainische Armee selbst solche Geschosse. Zweitens erstrecken sich die russischen Kampfhandlungen auf den Osten des Landes, weitab vom besagten Dörfchen, das drittens strategisch für Russland keinerlei Bedeutung hat. Stattdessen wäre ein russischer Angriff auf diesem Gebiet eher kontraproduktiv, da er nach Artikel 5 des NATO-Vertrages (eigentlich) den Bündnisfall bedeutete.

Obendrein wäre es in einem ersten Schritt von Wichtigkeit, die genaue Bauart der Raketen zu klären. Denn die Flugabwehrraketen der S300-Familie sind sehr unterschiedlich, gerade auch was ihre Reichweite betrifft. Während ältere Typen, z. B. S-300PT-1 und S-300PT-1A, lediglich Entfernungen von bis zu 75 Kilometern schaffen, ist die neueste Generation (S300 WM) dazu geeignet, ein 2.500 Quadratkilometer großes Gebiet abzudecken.

Wenn es also Russland nicht gewesen ist, wer war es dann? In Frage kommen außer Russland selbst nur Belarus (aber warum?) und eben die Ukraine. Nun ist dies zugegebenermaßen pure Spekulation, aber gerade in Anbetracht der heraufziehenden und von US-amerikanischer Seite (angeblich) nicht mehr ausgeschlossenen Friedensverhandlungen mit Russland kommt dieser „Beschuss“ der Ukraine wohl gerade Kriegsbefürwortern recht.

„Beweist“ er doch die scheinbar permanente Gefahr an der Nato-Ostflanke für Gesamt-Europa und führt das Kriegsdrama auf einen nächsten Höhepunkt zu. Dass Berlin (also Scholz) auf die Spekulationen über einen Bündnisfall zurückhaltend reagiert, ist positiv, aber eine auf dem diplomatischen Parkett naive und tollpatschige Baerbock mag derlei hanseatisches Understatement schon mal beim nächsten TV-Statement zunichtemachen. Man wird sehen. 

Was die Aufklärungsarbeit betrifft: Sollte hier tatsächlich eine ukrainische Beteiligung (wovon ich ausgehe) nachgewiesen werden können, wird die Spur des Urhebers ganz plötzlich genauso im Sande verlaufen, wie dies schon bei den Anschlägen auf die Nordstream-Rohre geschehen ist.

Dann wäre dies nämlich entweder ein peinliches „Versehen“, das zeigte, dass die Ukraine nicht Herr über ihre Waffen ist. Oder schlimmer noch: Es handelt sich um eine plumpe False-Flag-Operation, die mit einem NATO-Einsatz liebäugelt. Gerade dies würde das Regime in Kiew endgültig als Teil der sogenannten  westlichen Wertegemeinschaft disqualifizieren und jeglicher Sympathie berauben. Aber es darf ja nicht sein, was nicht sein darf. Honi soit qui mal y pense.  

Insgesamt spiegelt ein solcher Zwischenfall, wie sehr der Ukraine-Krieg, wie sehr jeder Krieg überhaupt, ein interessengeleitetes Politikum ist. Da werden von ukrainischer Seite immer wieder Forderungen gestellt, die die westliche Zivilisation potentiell an den Rand ihres Untergangs treiben könnten, Stichwort: Flugverbotszone, und die Chance zur „Frontenklärung“ genutzt.
 
Prinzipiell bleibt festzuhalten: Die Ukraine ist „nur“ ein Bauernopfer, das die weltpolitischen Pläne der USA vorantreiben soll. Das erste Etappenziel, den massiven Flüssiggasexport nach Europa voranzutreiben und Europa als Wirtschaftsmacht zu destabilisieren, haben die USA erreicht. Sprich: Sie haben längst den Wirtschaftskrieg gewonnen. Es liegt (nur) an ihnen, dass der Ukraine-Krieg überhaupt noch zugange ist.

Sollte sich Europa nicht von seinem US-amerikanischen Joch befreien und ganz im Sinne Charles de Gaulles ein starkes „Europa der Vaterländer“ mit einer unabhängigen Sicherheitsarchitektur anstreben, ist die Gefahr eines dritten Weltkrieges niemals gebannt.