Überlegungen zur Sozialisation im kapitalistischen Gesellschafts-Kontext

In einem von Nebelschwaden durchzogenen, trüben und feuchten 25. Dezember finde ich nun also doch noch ein gewisses Maß an Ruhe und Entspannung. Es ist eine Form der Zeitlosigkeit, oder vielmehr, das Aus-der-Zeit-Gelöst-Sein, was mich zwischen meinen Büchern und denen sich aus ihnen entfaltenden Gedankenwelten ein wenig zur Ruhe kommen lässt. Ob man das nun besinnlich nennen mag, das wage ich zu bezweifeln. Vielmehr ist es eine Art des über das Jahr hinweg stets verlorenen geglaubten Egozentrismus, der Besinnung auf das Eigene, auf das Selbst, das endlich nicht von einem künstlichen Tagesablauf determiniert wird und sich nun endlich von der schalen, bröckelnden Fassade einsozialisierter Konventionen und Normen befreien darf.

Schade nur, dass sich dieser fragile Charakter der Freiheiten, die sich aus dem temporären Auf-der-Stelle-Treten-Dürfen ergeben, wohl nicht über das nächste Jahr hinweg bewahren lassen. Und ich denke an Marx, der sinngemäß schrieb, dass Menschen zwar ihre eigene Geschichte machten, dass diese, die Geschichte selbst, sich aber immer nur unter bereits vorgegebenen Umständen vollziehe*. Gesellschaftstheoretisch lässt diese Ansicht leider nicht viel an emanzipatorischem Potential zur Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit zu, da die Windungen des Lebensweges demnach ja schon biographisch angelegt sind, aber ich teile sie mehr als die existenzphilosophischen Ansichten eines Martin Buber oder die oft selbstgefälligen Omnipotenz-Phantasien mancher Konstruktivisten, die einer Begegnung oder dem Selbst mehr schöpferisches Potential zuschreiben, als beispielsweise einer Überweisung des Arbeitsamtes am Monats-Ersten.

Gesellschaftlich Ungleichheit lässt Menschen arm werden – materiell und geistig. Geistig insofern, als dass die materielle Armut oder auch die materielle Abhängigkeit dazu beitragen, ein systemkonformes Verhalten an den Tag zu legen. Eben das Arm-Sein ist es, aus dessen Klauen sich Betroffene aus eigener Kraft oft nur schwer befreien können, da sie eben das gesellschaftliche Korsett daran hindert. Wo materielle Ungleichheit als gelebtes Paradigma die Lebenswirklichkeit und die Lebenswelt der Menschen bestimmen, dort ist wenig Raum zur persönlichen Verwirklichung. Wo monotone Arbeitswelten eine rein mechanische Tätigkeit fordern, sind keine abschweifenden Gedanken gefragt und wo Arbeiter und Arbeiterinnen sich in dem immer komplexeren Produktionsprozess verlieren, geht auch ein wichtiger Aspekt der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit selbst, das Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Relevanz für das Gesamtsystem, verloren. Die Wurzeln der gesellschaftlichen Ungleichheit sind dabei schon zu finden in den primären Sozialisations-Instanzen, namentlich schon in der dyadischen Beziehung zwischen Mutter und Kind, dem Elternhaus und später der Schule, indem diese Instanzen es sind, die das Kind auf die für die Gesellschaft so wichtige Form der späteren Unterordnung im kapitalistischen Produktionsprozess vorbereiten. Erst durch diese, dem Grundverständnis nach subtile Formen der Sozialisation, wird das Individuum empfänglich für konformistische Perspektiven, wird es gefügig und internalisiert in ihnen den Glauben an die Notwendigkeit einer Unterwerfung, um materielle Sicherheit erlangen zu können.

Das Opfer, das es dabei erbringt, ist hoch. So reift in ihm durch derlei Sozialisationsstrukturen schon früh der Irrglaube in die mangelnde, eigene gesellschaftliche Relevanz und fördert vice versa die Perspektive des Wir-da-unten und Die-da-oben.

Um den Kreis zu schließen: Oft haben Menschen nicht den Luxus erfahren, ihren eigenen Gedanken nachhängen zu dürfen. Und genau darin liegt die Crux: Denn indem einer Vielzahl von Menschen systematisch die eigene Begrenztheit eingeredet wird, sind diese zwar für den kapitalistisches Produktionsprozess das wertvollste Gut, wissen aber nicht um ihre systemrelevante Bedeutung und finden sich auf dem Boden der harten, materialistischen Realität wieder. Dort sind es die offenen Rechnungen, die überteuerten Schuhe für die Kinder, die die Lebenswirklichkeit bestimmen und die die Dependenz zwischen Arbeit, Geld und Arbeitgeber zu einer unausweichlichen, kapitalistisch-determinierten Trias erwachsen lassen, die dem Einzelnen tagtäglich vorwurfsvoll suggeriert, es sei das Höchstmaß an Glück, für sieben Euro Stundenlohn am Fließ-Band zu stehen, während sich die Konzernbosse Milliarden-Gewinne in ihre Taschen stopfen. Welch neurotisches Fundament, auf das der Kapitalismus doch fußt…

*Das ursprüngliche Zitat stammt aus der von Marx im Mai 1852 veröffentlichten Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ und soll der Vollständigkeit halber hier aufgeführt werden:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“

Autor: Andreas Altmeyer

Autor, Friedensaktivist

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