Requiem auf unsere verlorenen Ideale

„Der Traum ist aus.“ (Rio Reiser)

Sagen Sie mir: In welchen Zeiten leben wir eigentlich? Oder um die Frage weniger rhetorisch klingen zu lassen: Ist Ihnen nicht längst schon bewusst, dass irgendwas, wie dieses irgendwas auch immer aussehen mag, fehlt? Wir leben in einer Welt des Scheins, in der das Produkt selbst wichtiger geworden ist als jene, die es konsumieren. Gleichzeitig sind wir, wenn überhaupt, nur wichtig als Konsumenten, als getreue Produktevangelisten, die in ein System hineinsozialisiert werden, das die absolute Freiheit suggeriert, ohne nur eine Ahnung davon zu haben, was echte Freiheit eigentlich ist und was sie bedeuten würde. Denn der Wert Freiheit wird verklärt zugunsten eines dem gerade gültigen Narrativ folgenden Beißreflexes, der weder reflektiert, noch mit echten Werten daherkommt. Das Narrativ selbst entlarvt sich bei genauerem Hinsehen als eine plumpe Erzählung – von Corona, vom Ukraine-Krieg, von der Klimakrise und so fort – die auf Emotionalität und Verkürzung, statt auf Objektivität und Erklärung setzt. Die Erzählung wird zum Produkt, zur komischen Oper, mit Anfang, Mittelteil und einem Ende. Erzählt wird diese Erzählung von gleichgeschalteten Medien, die ihre Aufgabe darin sehen, den gesellschaftlichen Status Quo zu erhalten und zu stabilisieren. Sie bestimmen das, was erzählt wird genauso wie die Art des Erzählens selbst. Es geht ums Erzählen, nicht um die Wahrheit.  

Die Tragik in unserer Zeit ist nun, dass wir selber völlig verlernt haben, dieses Schauspiel des Gesamten zu entlarven. Die Mehrheit erkennt nicht, dass das Leben in der materialistischen Warenwelt, in der alles eine Ware und eine Ressource darstellt, alles verfügbar, immer und zu jeder Zeit, ein Trugbild ist. Wir hechten ihm nach wie einer Fata Morgana, ohne dies selbst wahrzunehmen, außer vielleicht, wenn wir eine tiefe innere Leere spüren, die uns manchmal übermannt.

Wir wissen es längst nicht mehr und haben vergessen. Vergessen wie eine authentische Welt aussehen könnte – eine Welt, in der nicht der Konsum zum goldenen Kalb ernannt wird und wir alle dessen gläubige Jünger sind. Dieser Konsum ist so sehr in unser Innerstes vorgedrungen, dass wir ihn zur neuen Religion erwählen ließen und wir nehmen die Folgen billigend in Kauf.

Wissen wir denn überhaupt noch, wer wir sind oder sind wir längst Getriebene innerhalb eines Strudels der Oberflächlichkeit, in dem Besitz und Prestige mehr zählen als die Ratio, als das menschliche Sein und die Sinnlichkeit? Denn die Sinnlichkeit als unmittelbares Erleben und als Erfahrung unserer Umwelt, als die Wahrnehmung dessen, was uns umgibt, ist uns ebenfalls abhandengekommen, wurde ersetzt von einem Bildschirm, der uns Lebendigkeit vorgaukelt. Eine stupides Surrogat ist das – mit Influencern, den im Enddarm der kapitalistischen Produktionskette steckenden  Seelenverkäufern, die selbst die Opfer einer sich von sich selbst entfremdenden Scheinwelt sind. Übersättigt und realitätsfern, weit weg vom Leben selbst, spiegeln sie nur die Idee eines „Lebens von“, eines surrealen Entwurfs, überzeichnet wie in einem Gemälde von Salvador Dali. Doch möchten wir wirklich in einem Gemälde, in einem mit Filtern weich gezeichnetem Stilleben leben, in dem immer gelacht und – wenn – nur öffentlich geweint wird?

Wir verharren und verkrusten in einem „Immer weiter so“, in einem gesellschaftspolitischen Perpetuum mobile, mit politischen Repräsentanten, die keine Ahnung von dem haben, was ihr Tun oder Nicht-Tun bewirkt, weil sie weder moralisch noch gesellschaftlich verantwortungsvoll, stattdessen eindimensional und verantwortungslos handeln. Was repräsentieren sie, wen repräsentieren sie? Das Volk und dessen Interessen sind es nicht. Denn ferngesteuert von einem entrückten Global-Kapitalismus sind Warenströme und der Dauernachschub von A nach B und von West nach Ost wichtiger als jedes politisch vernünftige Ziel. Inklusive all der vielen transatlantischen Verflechtungen und Obligationen, die die zahnlose Riege der berufspolitischen Heerestreiber einging, um bittend und bettelnd an der Zitze des US-imperialistischen Systems zu saugen. Treu doof. Treu bis in den Tod der eigenen Soldaten. Opportun, flach und ohne hehre Ziele, außer dem der eigenen wirtschaftlichen Vollversorgung.  

Doch die Menge wählt sie trotzdem, weil auch die Polit-Darsteller Produkte der Medienindustrie sind, Produkte, die konsumiert werden: morgens beim Zeitungskauf oder abends im Internet. Aber eigentlich ist jedes Wort, das über sie, z. B.  eine Frau Baerbock, gesagt wird, verloren, weil dieses Personal austauschbar und unsagbar verräterisch ist. Unter seiner Ägide wird das Volk verraten und verkauft, und die Menge applaudiert und meint „he/she did a great job“, wenn Frontbesuche abgestattet werden und mit aufgesetzter Miene Traurigkeit vorgetäuscht wird, während andernorts Deutschland als bestens organisierter Rüstungsexporteur Frauen, Kinder und Männer ins Jenseits schießt und bombt. Eine pseudo-politische Kaste ist das, die Politik nicht macht, sondern in einem bereits vorgegebenen, in einem abgesteckten Claim der wirklich Mächtigen agiert und vorgibt, selbst mächtig zu sein.  

So zutiefst verlogen und amoralisch ist dieses System, dass es an einer Stelle von Moralität spricht, die es an anderer Stelle mit den Füßen tritt. Wichtig ist, dass wir alle mitmachen, dass wir alle betroffen sind, wenn diese Betroffenheit im Sinne der Regierenden ist. Einmal wieder die Ukrainische Flagge hochhalten, bitteschön, und am besten noch zig Tonnen Waffen liefern. Selbst eingefleischten Pazifisten wird das Putin’sche Feindbild so lange mit Hammer und Meißel in den Kopf gehämmert, bis diese bei einem Ringtausch an eine Heirat denken. Putin ist Böse, Selenskyj ist gut: Dieses zweigeteilte Weltbild ist es, was der schnöde Pöbel versteht und was man ihm vorsetzt als lauwarmes Kantinenessen.

Doch, wer kann ihm diesen Konformismus zum Vorwurf machen? Die Menschen der westlichen Hemisphäre  wurden ja reinsozialisiert in dieses System der „schönen neuen Welt“, wir wurden im Frontalunterricht nach wilhelminischem Vorbild auf Kurs gebracht. Zweigeteilt war die Welt für die meisten Rezipienten unseres Bildungssystems doch schon immer. Ein Bildungssystem, das die akademische Ausbildung als oberstes Ziel ansieht, gleichzeitig das Individuum so schnell wie möglich dem Markt zuführen möchte – als Human Ressource Mensch. Ausbildung statt Bildung, Gleichschaltung statt Individualität: Da schadet zu viel Freigeist nur, denn in einer Welt des globalisierten Konkurrenzdenkens sind andere Skills gefragt. 

Ganz egal was, das Kind soll studieren. Erst mal. Kein Wunder, dass die Bildungsindustrie allerlei phantasiereiche Studiengänge aus der Retorte hob. Vorbei die Zeiten, in denen man sich einer Profession oder einem altgedienten Fach oder einem Lehrberuf verschrieb. Alles und jeder soll heutzutage studieren, ob er will oder nicht, egal, ob er es weiß oder nicht, und wenn der Studiengang auch „Historisch orientierte Kulturwissenschaft“ oder gar Betriebswirtschaftslehre heißt. Es gilt, sich durch die akademische Bildungslandschaft zu mäandern, im vorberuflichen Wartesaal der verlorenen Träume, komme, was wolle. Wer braucht da schon Handwerk, wer braucht da schon Verkäufer, wer braucht da schon Pfleger? Das ist wohl der größte bewusst herbeigeführte Irrsinn unseres Bildungssystem: die einseitige Ausrichtung auf eine universale Akademisierung – von der Grundschule an. Dies führt nicht nur zu einer Verflachung der Lehre wie Adorno schon feststellte, sondern zwangsläufig auch zu Nachwuchssorgen – in allen anderen Berufsfeldern. Die Geister, die man rief. Und importieren müssen wir die echten Fachkräfte – so geht ja die Mär – von anderswo her.  

Sind wir erst einmal in dem bildungspolitischen Hamsterrad, hat uns die daraus resultierende Gesellschaftsordnung sehr schnell vereinnahmt. Eine Sozialisation zum Egomanen, zum Narzissten ist die Folge. Die „Zöglinge“ gehen so inhaltsleer und teilnahmslos aus dieser hervor wie die Generationen der letzten achtzig Jahre. Dieses Individuum kämpft für nichts als sich selbst, vertritt vielleicht nur einen schalen Beigeschmack der Werte, die früher, irgendwann einmal, gelebt worden waren. Die große Symbolik wird nur auf Social Media gelebt, die große Symbolik setzt an der Oberfläche an – und verharrt auch dort. Denn die „Jungen“ lassen sich wunderbar instrumentalisieren und vor den machtpolitischen Karren spannen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ganz nach dem Motto: Sind wir mal gegen Autorennen, weil das nicht gut fürs Klima ist, aber so ein bisschen Krieg gegen einen russischen Bösewicht, das muss sein.

Wer sagt, Teile der Jugend seien politischer als früher, dem kann ich nur entgegnen: Das, was da als politisch daherkommt, ist nichts anderes als ein realitätsfernes postpubertäres Aufbegehren, eine Haltung der Vorhaltung, ohne eigene positive Impulse. Größtenteils jedenfalls. Oder denken Sie, die juvenilen Krieger fürs Klima würden auch dann noch Abstriche bei sich selbst machen, wenn sie es wären, die die Steuern zahlen müssten, die sie fordern, wenn sie es wären, die eine Frau und fünf Kinder ernähren müssten, wenn sie es wären, die auf einen Arbeitsplatz in der Industrie angewiesen wären? Kurz gesagt ist es eine übersättigte Kaste an Wohlstandskindern, die sich das Fordern überhaupt erst leisten kann.

Doch was ist eigentlich deren Ziel? Wollen sie die Gesellschaft wirklich zum Guten verändern – Ansätze davon gibt es einige – oder geht es ihnen eher um das Schock-Momentum, darum, der breiten Masse den moralischen Zerrspiegel vorzuhalten, damit sich die alten weißen Männer mal richtig betroffen fühlen? Ich denke, es geht den Demonstrierenden jedenfalls nicht wirklich um das „Wohl der Menschheit“, sondern darum, sich selbst moralisch reinzuwaschen. Ihnen ist nicht oder nur teilweise bewusst, dass sie sich damit zu den Erfüllungsgehilfen globaler Konzerne machen, die nun endlich die Chance sehen, durch das Greenwashing ihrer Produkte, noch mehr Gewinne zu erwirtschaften.  Das Öko-Narrativ als Gelddruckmaschine, als Möglichkeit, die Masse zu Drangsalieren.  So einfach ist das.

Wir sind entrückt von uns selbst und merken es nicht mal, gefangen in einer Gegenaufklärung, die sich nur um sich selbst dreht – feingranular, irreführend, betäubend. Der Schutz der gesellschaftlichen Minderheiten ist in den Fokus gerückt, während dem Schutz des gesellschaftspolitischen Ganzen kein Platz mehr eingeräumt wird. Wir alle müssen so tolerant sein, ob wir wollen oder nicht. Ist das nicht zutiefst intolerant? Gendern wir uns irgendwann alle zu Tode?

Was, wenn ich nicht auf der Regenbogen-Welle mitsurfen wollte, wenn ich eine gewisse Form des Konservatismus durchaus guthieße, wenn ich nicht nur Putin als den einzig Schuldigen im Ukraine-Konflikt betrachtete, wenn ich fände, dass ein Staat Grenzen braucht, wenn ich der Meinung wäre, dass die Corona-Politik Deutschlands in weiten Teilen falsch und suppressiv gewesen wäre? Na, dann sollen Sie aber mal sehen, wie tolerant unsere Gesellschaft wirklich ist. 

Es kommen enorme gesellschaftliche Verwerfungen auf uns zu und zeigen sich bereits in ihren Anfängen. Dass jene, die sich da Regierende nennen, nicht mit adäquaten Antworten und – was wichtiger wäre – mit Problemlösungen reagieren, attestiert ihnen einmal mehr ihre Unfähigkeit. Indem jeglicher Prozess als monokausal (z. B. „die Inflation haben wir wegen des Ukrainekrieges“) und unausweichlich („alternativlos“ sensu Merkel)  „von außen“ kommend deklariert wird, spricht man sich als politisch Agierender von jeglicher Verantwortung frei und kann ungestört weiter in seiner Machtblase tönen. Und der Pöbel lässt es  zu.

Lässt es zu, als Bärbock’scher und Habeckscher Prellbock herzuhalten, für hohe Steuern, für unsinnige Sanktionen, die uns schaden, für Benzinpreise, für schwindende Sozialleistungen, die niedrigsten Renten in Europa, für ungebremste Zuwanderung, für Auslandseinsätze der eigenen Soldaten in Ländern, in denen sie nichts verloren haben.  Denn eigentlich ist uns das ja alles egal, wir sind träge, gesättigt, degeneriert und leer. So leer sind wir, dass wir nicht mehr erkennen, wer uns gut gesonnen ist und wer nicht, längst können wir die Welt nur noch in Schwarz und Weiß wahrnehmen – es gibt keine Nuancen dazwischen.

Alles, was inhaltlich ein Talk-Show-Format übersteigt, können wir nicht mehr erfassen, wir sind angewiesen auf gut bezahlte Tagesschau-Kommentatoren, die uns ihre Welt erklären, aufs Polarisieren, aufs Diskreditieren und auf das gedankenlose Wiederkäuen der Standpunkte der anderen, ohne eine Haltung zu etwas zu haben, die auf Erkenntnis fußt. Anne Will es, dann soll sie es haben und wenn Markus eine Lanze fürs Establishment bricht, so ist der TV-Abend mal wieder gerettet. Da darf auch ruhig einmal ein Schlipsträger über die Möglichkeit eines Atomkrieges sinnieren, ohne unmittelbar und aus gutem Grund aus der Sendung geschmissen zu werden. Let us entetain you – auch wenn aus der Unterhaltung schnell Ernst werden könnte.

Mit der Materialisierung der Welt ging ihre Entgeistigung einher – und damit wiederum die Verbannung der unmittelbar sinnlichen Erfahrung des Seins. Wir haben verlernt, auf unsere innere Stimme zu hören, auf eine in uns gereifte und evolutionsgeschichtliche Instanz der Vernunft. Eine Entnaturalisierung hat Einzug gehalten, ein inneres Vakuum sich gebildet, das mit Ersatz gefüllt werden will – mit dem Kick, dem Happening, dem Event, dem Amüsement als Mittel der Zerstreuung. Wir verlieren uns und haben sogar Spaß daran, denn eigentlich wollen wir uns gar nicht finden. Religion – ein Vakuum. Bindung – lästig. Beziehung – nur bei schönem Wetter.

Alles und jeder will frei sein, doch in Wahrheit ist jeder halt- und bindungslos, gefangen in einem gottlosen Paradies, in das wir gar nicht wollten. Und vielleicht ist es ja diese Gottlosigkeit, die uns die Träume geklaut hat oder die Idee davon, wie ein besseres Leben hätte aussehen können. „Der Traum ist aus“, sang Rio Reiser damals, aber was, wenn wir ihn schon längst aufgegeben haben zu träumen?

Wir sind Getriebene, die es nicht mal mehr wissen, wohin die Reise geht, ist uns völlig egal. Anders lässt sich diese echte politische Teilnahmslosigkeit der breiten Masse, die selbstgerecht im eigenen Sud dahinköchelt, wirklich nicht mehr erklären. Politische Teilhabe meint dabei nicht einmal, das Philosophien im akademischen Elfenbeinturm, sondern ein echtes Interesse zu haben, was uns umgibt, was wir uns und unseren Kindern aufbürden und die Bereitschaft, dies selbst zu verändern. Nichts ist im Leben alternativlos, außer der Tod. Doch wollen wir schon zu unseren Lebzeiten die Walking Dead sein? Zeigt uns nicht ein Blick ins politische Tagesgeschehen, dass dies, was hier passiert nicht „gut“ sein kann? Doch außer einem stillen Groll in uns selbst und einer weiteren repräsentativen Demo wird nichts geschehen. Wir verharren, statt zu handeln, reden, statt zu tun.   

Was wäre also nun, wenn an die Stelle dieses Vakuums ein wirklich starker neuer „Führer“ treten würde? Wie auch immer diese Macht aussähe? Wären wir für dessen Worte nicht empfänglich? Würden wir ihn nicht genauso gewähren lassen wie  unsere sogenannten Politiker jetzt? Das scheint wohl unsere Natur zu sein, der Wunsch zur Unterordnung, die Degradierung zum Befehlsempfänger – das hat ja nicht erst Corona gezeigt. Wir wollen aufgehen in der Menge, ein Teil von ihr sein, individuell nur im Kleinen, uniform im Großen. Wir verharren. Was da auch kommt. Wer da auch kommt. Wir sind die Walking Dead. Laufen wie die Duracell-Hasen von da nach dort, ohne Heimathafen, immer auf der Suche nach Geborgenheit in einer verlorenen Welt der Masken, in einer Welt der Waren, in einer Welt, in der wir uns fremd und zugleich zu Hause fühlen. Alles ein Surrogat, Artefakte einer dekadent gewordenen Zeit, die sich selbst in ihren Superlativen überholt. The dream is over before it has started.

Die Irrationalität des Krieges

Willy Brandt war es, der einst feststellte, dass Krieg nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio ist. Weiter erklärte er: „Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. Kein nationales Interesse lässt sich heute noch von der Gesamtverantwortung für den Frieden trennen. Jede Außenpolitik muss dieser Einsicht dienen. Als Mittel einer europäischen und weltweiten Sicherheitspolitik hat sie Spannungen abzubauen und die Kommunikation über die Grenzen hinweg zu fördern“1.

Was hätte dieser, die Sozialdemokratie wie kein anderer verkörpernde Friedensaktivist, wohl von den jüngsten Entwicklungen an der Ostflanke Europas gehalten? Und was hätte er zur endgültigen Abkehr seiner Partei von deren friedenspolitischen Zielen und damit von ihrem Kernprofil gesagt? Wir werden es nie erfahren. Fest steht allerdings, dass sich diese Abkehr schon viel früher vollzog, mit der rot-grünen-Beteiligung an der Bombardierung Serbiens2 Ende der neunziger Jahre nämlich. Schon damals wurde die „Zeitenwende“ eingeleitet, von der jetzt überall die Rede ist und die als Rechtfertigung und Begründung für den Abschied von einer vernunftgeleiteten Politik ins Schlachtfeld geführt wird. Mit diesem Abschied von dem, was eigentlich menschlich, was eigentlich vernünftig ist, gehen viele Paradoxien einher. Primär die Paradoxie, dass Waffen Frieden bringen und dass Waffenlieferungen dazu beitragen werden. Beispiele aus der Geschichte gibt es dafür keine. Gleiches gilt für Sanktionen, die uns die Politik als „Mittel zur Selbstgeißelung“ verkaufen will. Auch durch diese wird es kein Kriegsopfer weniger geben, stattdessen de facto massivste wirtschaftliche Schäden auf kollektiver und individueller Ebene. Doch davon möchte unsere, der Realität entrückte Politiker-Kaste nichts hören oder verschließt davor bewusst ihre Augen. Eine Politik fürs „Volk“ (ja, ich mag diesen Begriff auch nicht) sähe zweifellos anders aus.

Ganz abgesehen davon, wird hier seitens der Regierung mit zweierlei Maß gemessen. Denn wollten wir bei allen Verhandlungspartnern unserer Bundesregierung das moralisch-ethische Maßband anlegen, und „sanktionieren für die Moral“, so hätten wir viel zu tun – und müssten wohl als allererstes bei den USA anfangen. Erinnern müssten wir uns nur an die Indianerkriege ab dem Jahre 1796, an die Unterwerfung der Philippinen (1898-1902) und an die gewaltsame „Annexion“ Hawaiis3 (1898). Doch Geschichtsvergessenheit kann so erleichternd sein und so verhandeln wir weiter. Auch schon mal mit Katar, das den Jemen als Teil der Arabischen Allianz4 in Grund und Boden bombt.

Das macht Putins Krieg nicht gerechter oder gar besser – aber eine generelle Abkehr von der Friedensdividende, eine Aufblähung der Verteidigungsapparate, ein durch die Bundesregierung aufgesetzter Schattenhaushalt für Verteidigungsausgaben, der klangvoll als „Sondervermögen5“ deklariert wird, all das macht es ebenso wenig.

So müssen wir seit dem Beginn des Ukraine-Krieges eine Bundesregierung ertragen, die ihre pazifistische Doktrin aufgegeben hat, zugunsten endgültiger pro-amerikanischer Hörigkeit und transatlantischer Bündnisstreue, die an Devotion nicht mehr zu überbieten sind. „Alles für Onkel Joe und seine Freunde“ – das scheint die Parole zu sein und ein Bundeskanzler, der zögert, wird da ganz schnell wieder auf Kurs gebracht. Washington is calling – und wir folgen mit stehenden Ovationen im Bundestag. Wie die „Schlafwandler“ in Christopher Clarks Buch über den Ersten Weltkrieg werden wir in den Abgrund dirigiert. Und jeder, der in diesen Tagen nur einen Hauch von Kritik an dem sich verschärfenden militärischen Ton übt und den potentiell heraufziehenden Dritten Weltkrieg prophezeit, wird als „Russlandversteher“ gebrandmarkt – so zum Beispiel von Friedrich Merz, dem alten neoliberalen Möchte-gern-Kanzler, der tatsächlich die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine als Mittel sieht, um den Dritten Weltkrieg zu verhindern6. Verkehrte Welt. Das eigentlich Dramatische daran ist, dass solchen politischen Possenreißern wie Merz überhaupt noch die große mediale Bühne geboten wird – denn wenn er auch als verstaubte Gallionsfigur einer ehemals großen Partei herhalten muss: Politisch passt seine Karriere inhaltlich auf einen Bierdeckel.

Allerdings: Die Medien, selbst jene, von denen man sich eine reflektierte Perspektive wünschen würde, lieben die knackigen Aussagen solcher Schreihälse so sehr, dass es einem nur Angst und Bang werden kann. Kritische mediale Stimmen hingegen sind rar geworden und finden sich, wenn überhaupt, nur noch im „Junge-Welt-Spektrum7“. So gleicht alles einem Einheitsbrei, der die breite Masse mit martialischer Propaganda und einem dualistischen Weltbild von „Gut und Böse“ füttert, ohne das politische System und dessen perfide Struktur zu hinterfragen, das überhaupt zu dem Ukraine-Desaster erst führen konnte. Selbst ein ehemals investigativer SPIEGEL ist da keine Ausnahme mehr und in Sachen Waffen und Feindbild völlig d’accord mit den Trans-Atlantikern. Genau auf diese Weise wird das Undenkbare überhaupt denkbar: Indem permanent das Kommunikations-Dauerfeuer genutzt wird, Aufrüstung als einzig legitime Antwort auf den Ukraine-Krieg zu missbrauchen und uns auf kriegerische Zeiten, ja gar einen möglichen Atomkrieg einzustimmen. Ja, sind die denn alle deppert?

Es ist eine Sache, eine klare (kritische) politische Haltung gegenüber Russland zu beziehen, eine andere, sich, indem man sich mit einem Nicht-NATO-Mitglied verbündet und ihm Waffen liefert, eher direkt als indirekt zur Kriegspartei zu machen.

Es ist nur offenkundig, dass es unserer Bundesregierung nicht um die Interessen der Bevölkerung geht – weder um die im eigenen Land noch die in der Ukraine. Und damit eben diese Politik des kriegerischen Pathos überhaupt aufrechterhalten werden kann, muss die „Umdenke des Pöbels“ initiiert und organisiert werden, ganz nach dem Motto: Pazifismus? War gestern! Die amerikanische Administration dürfte dies freuen, unlängst hat sie angekündigt, den Standorten in Rheinland-Pfalz, darunter natürlich Rammstein und Baumholder, riesige Etats zukommen zu lassen7a und sie weiter auszubauen. Der Brückenkopf Deutschland dürfte damit auch immer interessanter werden für die „Fadenkreuze“ der „Gegenseite“. Es ist ein politischer und diplomatischer Irrsinn, das alles und der valideste Beweis dafür, dass die politischen Akteure der ersten und zweiten Reihe absolute Fehlbesetzungen sind. Ohne Rückgrat und ohne eigene Ziele machen sich da Entscheidungsträger zum geopolitischen Spielball der USA.

Noch einmal: Jeder Tag, den der Ukraine-Konflikt andauert, ist ein Tag zu viel. Doch zu sagen, dieser Krieg sei nicht vorhersehbar gewesen, scheint mir weit hergeholt – zumindest dann, wenn man auf dem Zeitstrahl länger als nur für zwei Monate zurückblickt. Nicht erst seit dem Assoziierungsabkommen8 im Jahr 2013, sondern schon in den Jahren 2005/6 wurde mit dem Ausbleiben russischer Gaslieferungen an die Ukraine deutlich, dass ein heraufziehender Konflikt in seinen Folgen für Europa dramatisch sein würde und dass sich Russland in der Hinwendung der Ukraine zu einem pro-westlichen Kurs bedroht sieht. Diese Tendenz hatte sich durch die damaligen schweren innenpolitischen Differenzen zwischen der Regierung Janukowitsch und Oppositionsführerin Tymoschenko9 weiter verschärft und fanden 2014 auf dem Maidan ihren traurigen Höhepunkt.

Wenn wir unseren Blick wieder in die Gegenwart richten, so wird klar, dass sich Deutschland mit seiner Entscheidung, der Ukraine schwere Waffen zu liefern, nun quasi direkt am Konflikt beteiligt. Früher oder später wird Russland eine unmissverständliche Antwort an die politischen Akteure dieser Entscheidung senden müssen – zunächst wohl mittels Gas-Export-Stopp. Sollten sich die Russen weiter unter Druck gesetzt sehen, könnten nächste Schritte folgen. Aus geostrategischer Sicht wäre die Besetzung der „Suwalki-Lücke10“ zwischen Litauen, Polen und der russischen Enklave Kaliningrad nicht unwahrscheinlich, insbesondere da Kaliningrad militärisch hochgerüstet ist und den wichtigen Stützpunkt der Baltischen Flotte Russlands bildet – mit mindestens einem Zerstörer, zwei Fregatten, Iskander-M-Mittelstreckenraketen, zwei Kampfbombern SU-SM und einem Dutzend Schützenpanzern11. Aus strategischer Perspektive wären Nachschubwege und militärische Hilfe über das angrenzende Weißrussland sichergestellt.

Eine Besetzung der Suwalki-Lücke würde den NATO-Bündnisfall wahrscheinlich schon deshalb einläuten, da die baltischen Staaten durch eine solche Einflussnahme vom Landweg her blockiert, und andererseits Litauen und Polen als NATO-Mitgliedsstaaten unmittelbar bedroht würden. Ein zweites denkbares Szenario wäre die weitere Forcierung der russischen Expansion mit einem Überfall auf Moldawien oder – die dritte – der Angriff eines baltischen Staates selbst. Diese Option halte ich persönlich für die unwahrscheinlichste, da sie den NATO-Bündnisfall unausweichlich bedeutete, Putin sich unmittelbar einer militärischen Übermacht gegenübergestellt sähe und keinen Raum für gangbare Auswege mehr hätte.

Man mag an jedes einzelne dieser geostrategischen „Planspiele“ kaum zu denken wagen. Denn jedes von ihnen bedeutete den Dritten Weltkrieg. Und genau deshalb braucht es nun eine deutsche Politik mit Profil, die sich von der Rüstungsspirale des US-Imperialismus lossagt, und dennoch Putin – nicht Russland – gegenüber klare Kante zeigt. Raus aus dem Rüstungswahn, bevor es zu spät ist.

Was micht zutiefst bewegt, ist auch das maßlose Schweigen weiter Teile der Bevölkerung und der Friedensbewegung. Wie kann man bei einer so brandgefährlichen politischen Gemengelage und politischen Führern, die so maßlos reagieren, so gleichgültig und sprachlos sein? Wo sind die Hofgarten-Demos, wenn man sie mal braucht?

der zeitGEIST


Quellen und weiterführende Links:

1 Vortrag des Bundeskanzlers Willy Brandt am 11. Dezember 1971 in Oslo anlässlich der Verleihung des Friedens-Nobelpreises 1971

2https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Allied_Force, aufgerufen am 30.04.2022

3https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-hawaii-usa-annexion-100.html, aufgerufen am 30.04.2022

4https://www.deutschlandfunk.de/jemen-krieg-huthi-katastrophe-100.html, aufgerufen am 30.04.2022

5https://www.fr.de/politik/bundeswehr-sondervermoegen-100-milliarden-deutschland-ausgaben-verteidigungshaushalt-91505330.html, aufgerufen am 3o.04.2022

6https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-waffen-bundestag-merz-klingbeil-1.5574408, aufgerufen am 30.04.2022

7https://www.jungewelt.de/artikel/425669.durch-waffenlieferungen-wird-konflikt-noch-blutiger.html, aufgerufen am 30.04.2022

7ahttps://www.jungewelt.de/artikel/425429.konferenz-auf-luftwaffenst%C3%BCtzpunkt-ramstein-aus-gutem-grund.html, aufgerufen am 30.04.2022

8https://de.wikipedia.org/wiki/Assoziierungsabkommen_zwischen_der_Europ%C3%A4ischen_Union_und_der_Ukraine, aufgerufen am 30.04.2022

9https://de.wikipedia.org/wiki/Russisch-ukrainischer_Gasstreit, aufgerufen am 30.04.2022

10https://www.sueddeutsche.de/meinung/aktuelles-lexikon-suwalki-luecke-1.5553107, aufgerufen am 30.04.2022

11https://www.merkur.de/politik/ukraine-kaliningrad-deutschland-ostsee-wladimir-putin-militaerstuetzpunk-europa-baltische-flotte-zr-91411748.html, aufgerufen am 30.04.2022